Gerstein, Kurt
- Lebensdaten
- 1905 – 1945
- Geburtsort
- Münster
- Sterbeort
- Paris
- Beruf/Funktion
- SS-Offizier ; Widerstandskämpfer ; Soldat ; Funktionär ; Bergingenieur
- Konfession
- evangelisch-lutherisch
- Normdaten
- GND: 118690914 | OGND | VIAF: 89089114
- Namensvarianten
-
- Gerstein, Kurt
- Gerstein, Curt
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- Theodor Noa (1891–1938)
- Theophil Wurm (1868–1953)
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Gerstein, Kurt
1905 – 1945
SS-Offizier, Widerstandskämpfer
Als Christ und Mitglied der Bekennenden Kirche trat Kurt Gerstein Anfang 1941 der SS bei, um Kenntnisse über NS-Verbrechen zu erhalten. Seit 1942 Leiter der Abteilung „Gesundheitstechnik“ im Hygiene-Institut der Waffen-SS, wurde er Zeuge der Ermordung der Juden in den Vernichtungslagern Bełżec, Treblinka und Majdanek. Anschließend informierte er Kirchenführer und Diplomaten über seine Erfahrungen. 1945 inhaftiert, verfasste er kurz vor seinem Tod den ersten authentischen Augenzeugenbericht über den Holocaust.
Lebensdaten
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Autor/in
→Matthias Rickling (Büren)
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Zitierweise
Rickling, Matthias, „Gerstein, Kurt“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2022, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118690914.html#dbocontent
Ausbildung und Verhältnis zum Nationalsozialismus
Gerstein erlebte aufgrund zahlreicher Versetzungen seines Vaters eine unstete Schulzeit. 1921 zog die Familie nach Neuruppin, wo Gerstein zu Ostern 1925 sein Abitur ablegte. Anschließend zog er nach Hagen, engagierte sich in der protestantischen Jugendbewegung und wurde in seiner Glaubensentwicklung von dem Theologen Theodor Noa (1891–1938) stark beeinflusst. Nach kurzer Tätigkeit am Oberbergamt in Dortmund immatrikulierte er sich 1925 für Volkswirtschaftslehre, Jura, Mathematik, Physik und Chemie an der Universität Marburg an der Lahn. Im Juni 1931 bestand Gerstein das Examen als Diplomingenieur an der TH Berlin und absolvierte von Juli 1932 bis November 1935 eine Ausbildung zum Bergassessor in Dortmund.
Gerstein wurde am 1. Mai 1933 trotz seiner Ablehnung der nationalsozialistischen Kirchenpolitik Mitglied der NSDAP. Im Oktober desselben Jahres übernahm er in Hagen die Leitung der Schülerbibelkreise und protestierte Ende 1933 bei Reichsjugendführer Baldur von Schirach (1907–1974) und Reichsbischof Ludwig Müller (1883–1945) gegen die Übernahme der protestantischen Jugendbewegung in die Hitler-Jugend. Im Januar 1935 wurde er nach seinem Protest gegen das neuheidnische Theaterstück „Wittekind“ im Stadttheater Hagen von jungen NS-Aktivisten zusammengeschlagen. Nachdem er im September 1936 auf der Hauptversammlung des Vereins deutscher Bergleute in Saarbrücken Schriften der Bekennenden Kirche verteilt hatte, wurde Gerstein von der Gestapo für vier Wochen in „Schutzhaft“ genommen, aus dem preußischen Staatsdienst entlassen und kurz darauf aus der NSDAP ausgeschlossen. Seit Februar 1937 studierte er Medizin am Deutschen Institut für ärztliche Mission in Tübingen.
Im Sommer 1938 wurde Gerstein von der Gestapo verdächtigt, Mitglied des Stuttgarter Widerstandszirkels um Eugen Bolz (1881–1945) zu sein, und erneut für sechs Wochen in „Schutzhaft“ genommen. Zur Verbesserung seiner beruflichen Perspektiven beantragte er in der Folgezeit erfolglos die Wiederaufnahme in die NSDAP. Im Juni 1939 vom obersten Parteigericht der NSDAP teilweise rehabilitiert, fand er zeitweise Anstellung in der Privatindustrie.
Gerstein in SS und Widerstand
Ein zentrales Motiv Gersteins, in den Widerstand zu gehen, waren die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, über die er wahrscheinlich durch den Landesbischof von Württemberg, Theophil Wurm (1868–1953), informiert war und denen im Januar 1941 seine Schwägerin Bertha Ebeling (1901–1941) in der Heilanstalt Hadamar zum Opfer fiel. Anschließend schloss er sich der SS an, um sie von innen auszuspionieren und gegebenenfalls zu sabotieren. Als weiteres Motiv ist politischer Opportunismus denkbar, zumal Gerstein mitgeteilt worden war, dass über seine Wiederaufnahme in die NSDAP erst nach einer „längeren Bewährungsprobe“ entschieden werden könne.
Gerstein wurde im März 1941 als SS-Anwärter in das Sanitätskorps der SS eingezogen und nach seiner Grund- und Sanitätsausbildung zum 1. Juni 1941 an die geologisch-hydrologische Abteilung des Hygiene-Instituts der Waffen-SS in Berlin abkommandiert. Hier u. a. für die Entwicklung von Desinfektionsanlagen zuständig, machte er durch die Entwicklung mobiler und ortsfester Desinfektionsanlagen, sowohl für die Truppe als auch für Gefangenen- und Konzentrationslager, auf sich aufmerksam. Im Januar 1942 wurde er von Joachim Mrugowsky (1905–1948) zum Leiter der Abteilung „Gesundheitstechnik“ im Hygiene-Institut der Waffen-SS ernannt.
Diese Position führte Gerstein Mitte August 1942 in Begleitung der SS-Offiziere Rolf Günther (1913–1945) und Wilhelm Pfannenstiel (1890–1982) ins Generalgouvernement, wo er Einblick in die Vernichtungslager Bełżec, Treblinka und Majdanek erhielt, als Sachverständiger für „Schädlingsbekämpfung“ die Funktionstüchtigkeit der vorhandenen Gaskammern beurteilen sollte und die Ermordung deportierter Juden durch Gas erlebte.
Informant über den Holocaust
Auf der Rückreise berichtete Gerstein am 20. August 1942 das Erlebte dem schwedischen Gesandtschaftsrat Baron Göran von Otter (1907–1988), der die Informationen nach Stockholm weitergab. Zurück in Berlin, versuchte er die Vertretung des Papstes zu informieren, wurde jedoch von einem Nuntiaturrat des Hauses verwiesen, als er sich in zivil als Soldat offenbarte. Danach erstattete er dem Syndikus des katholischen Bischofs von Berlin Bericht, der versprach die Informationen weiterzugeben. Bischof Otto Dibelius (1880–1967) sowie der Presseattaché der schweizerischen Botschaft, Paul Hochstrasser, erhielten ebenfalls Kenntnis von Gersteins Informationen. 1943 übermittelte er sein Wissen auch an eine Widerstandsgruppe in den Niederlanden. Wahrscheinlich konnte er auf seinem Posten im Hygiene-Institut der Waffen-SS zudem Lieferungen des Gases Zyklon B in die Vernichtungslager sabotieren, indem er sie für unbrauchbar erklärte oder für andere Zwecke verwenden ließ.
Gerstein stellte sich im März 1945 nahe Reutlingen den französischen Truppen. Während seiner Inhaftierung verfasste er mehrseitige Berichte auf Deutsch und Französisch über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Der „Gerstein-Bericht“, der erste authentische Augenzeugenbericht über den Holocaust, wurde im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als Beweismittel herangezogen und 1953 in der edierten deutschen Fassung von Hans Rothfels (1891–1976) in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ veröffentlicht. Gersteins Bericht und einige seiner Briefe wurden zudem 1949 im ersten deutschen Prozess gegen die Produzenten von Giftgas (Degesch-Prozess) in Frankfurt am Main vorgelegt; hier schilderten u. a. Dibelius, Peter Buchholz (1888–1963), Hermann Ehlers (1904–1954) und Martin Niemöller (1892–1984) Gerstein übereinstimend als Gegner des Nationalsozialismus.
Ende Mai 1945 wurde Gerstein in ein Militärgefängnis des Französischen Geheimdiensts nach Paris gebracht, wo er als Kriegsverbrecher verhört und angeklagt wurde. Ab dem 20. Juli wurde für ihn Einzelhaft angeordnet. Am 25. Juli 1945 fand man Gerstein erhängt in seiner Zelle, vermutlich verübte er Suizid. Nach seiner Einstufung als „Belasteter“ durch die Spruchkammer Tübingen am 17. August 1950 setzten sich namhafte Persönlichkeiten öffentlich für eine Rehabilitierung Gersteins ein, darunter der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger (1904–1988), der Präses der Westfälischen Landeskirche Ernst Wilm (1901–1989) und der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Hendrik George van Dam (1906–1973). In Rolf Hochhuths (1931–2020) papstkritischem Schauspiel „Der Stellvertreter“ (1963) spielt die Figur Gersteins eine zentrale, positiv besetzte Rolle als Informant über die NS-Judenvernichtung. Im Juni 1965 wurde Gerstein auf Verfügung Kiesingers in die Gruppe der Entlasteten eingestuft. Gersteins Bedeutung als Zeuge für den nationalsozialistischen Massenmord ist unbestritten, während seine Tätigkeit im Widerstand aufgrund der schwierigen Quellenlage umstritten bleibt.
1926 | Mitglied im Corps Teutonia (Marburg) |
1934 | Berufung in den „Rat der Bekennenden Kirche Deutschlands“ (Ehrenamt) |
1964 | Kurt-Gerstein-Haus, Hagen-Berchum |
1995 | Förderkreis Kurt Gerstein, Hagen-Berchum |
2000 | Wanderausstellung „Kurt Gerstein – Widerstand in SS-Uniform“, Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Berlin) |
2005 | Bronze-Gedenktafel, Heerdestraße 11, Münster (Geburtshaus Gersteins) |
Nachlass:
Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund. (Teilnachlass)
Weitere Archivmaterialien:
Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen, Bielefeld, Bestand 5.2 (Sammlung Kurt Gerstein). (Online-Findbuch)
Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, München, Bestand ZS 236. (Zeugenschrifttum Kurt Gerstein, Band 1, Band 2, Band 3)
Gedruckte Quellen:
Hans Rothfels, Augenzeugenberichte zu den Massenvergasungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (1953), H. 2, S. 177–194. (Onlineressource)
Leon Poliakov/J. Wulf, Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze, 1955, S. 111 ff.
Um Ehre und Reinheit, Ausgabe A, 1937. (Hg.)
Monografien:
Helmut Franz, Kurt Gerstein. Außenseiter des Widerstandes der Kirchen gegen Hitler, 1964.
Saul Friedländer, Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten, 1968.
Alfred Katthagen, Kurt Gerstein. Eine deutsche Passion in der Hitlerzeit, 1985.
Henri Roques, Die „Geständnisse“ des Kurt Gerstein. Zur Problematik eines Schlüsseldokuments, 1986.
Pierre Joffroy, Der Spion Gottes. Kurt Gerstein – ein SS-Offizier im Widerstand?, 1995.
Jürgen Schäfer, Kurt Gerstein – Augenzeuge des Holocaust. Ein Leben zwischen Bibelkreisen und SS, 1999.
Bernd Hey/Matthias Rickling/Kerstin Stockhecke, Kurt Gerstein (1905–1945). Widerstand in SS-Uniform. Katalog zur Ausstellung, 2000, 42010.
Dieter Gräbner/Stefan Weszkalnys, Der ungehörte Zeuge. Kurt Gerstein, Christ, SS-Offizier, Spion im Lager der Mörder, 2006.
Artikel und Aufsätze:
Ernst Brinkmann, Im „Engagement für die christliche Sache“. Kurt Gersteins Lebensweg, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 62 (1965), S. 1–18.
Egon Franz, Die sexualpädagogische Missionsarbeit Kurt Gersteins im Rahmen seines Widerstandes gegen die Machthaber des 3. Reiches, in: Die Innere Mission 60 (1970), S. 208–216.
Helmut Talazko, Kurt Gerstein und der Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen evangelischen Kirche, in: Die Innere Mission 60 (1970), S. 196–208.
Günther van Norden, Widerstand im deutschen Protestantismus, in: Klaus-Jürgen Müller (Hg.), Der deutsche Widerstand 1933–1945. Eine Dokumentation, 1986, S. 108–134.
Peter Steinbach, Kurt Gerstein. Der Einzeltäter im Dilemma des exemplarischen Handelns, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 91 (1997), S. 183–197.
Willi Dreßen, Die Rolle eines Toten im sogenannten „DEGESCH-Prozeß“. Kurt Gerstein und die Zyklon-B-Lieferungen, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 91 (1997), S. 199–210.
Bernd Hey, Das Kurt-Gerstein-Archiv, in: Archivmitteilungen der Westfälischen Kirche 8 (1998), S. 8–18.
Florent Brayard, An Early Report by Kurt Gerstein, in: Bulletin du Centre de recherche français à Jérusalem 6 (2000), S. 157–174. (Onlineressource)
Matthias Rickling, „Kurt Gerstein – Widerstand in Uniform“. Eine Ausstellung des Landeskirchlichen Archivs Bielefeld, in: Verband kirchlicher Archive in der Arbeitsgemeinschaft der Archive und Bibliotheken in der evangelischen Kirche, Rundbrief Nr. 18, 2001, S. 14–21.
Henk Biersteke/Ben van Kaam, Kurt Gerstein und der Holländische Widerstand, bearb. v. Matthias Rickling, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 97 (2002), S. 269–277.
Matthias Rickling, Fünf Punkt Zwei – Das Gersteinprojekt. Ein Archivbestand macht Karriere, in: Claudia Brack/Johannes Burkardt/Wolfgang Günther/Jens Murken (Hg.), Kirchenarchiv mit Zukunft. Festschrift für Bernd Hey zum 65. Geburtstag, 2007, S. 317–329.
Felix Dreyer, Kurt Gerstein. Vom Täter zum Widerstandskämpfer. Der Rehabilitierungsprozess Kurt Gersteins im Wandel der Beurteilung von Widerstand in der Nachkriegszeit, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 105 (2009), S. 315–367.
Sebastian Sigler/Klaus Gerstein, Der einsame Weg des Kurt Gerstein, in: Sebastian Sigler (Hg.), Corpsstudenten im Widerstand gegen Hitler, 2014, S. 289–321.
Fernseh- und Rundfunkproduktionen:
Report über Gerstein, ARD, 29.6.1964.
Radiosendung „Der Außenseiter“, WDR, 25.7.1965.
„Kurt Gerstein – oder die Geschichte eines extremen Gewissens.“ Dokumentarfilm v. Otto Laurisch, ARD-SFB, 13.8.1968.
„Kurt Gerstein – Der Christ, das Gas und der Tod“, Dokumentarfilm v. Claus Bredenbrock und Pagonis Pagonakis, 2006.
„Kurt Gerstein – Zeuge der Wahrheit“, Dokumentation v. Philippe Labrune, arte, 2007. (Onlineressource)
„Aus Schweden kein Wort – Ein Diplomat und der Holocaust“, Dokumentarfilm v. Carl Svenson, 2017.
„25.07.2015 – Todestag von Kurt Gerstein“, v. Heiner Wember, WDR ZeitZeichen, 25.7.2015. (Onlineressource)
Fotografie, 1941, Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen, LkA EKvW 5,2 F 164.