Reinefarth, Heinz
- Lebensdaten
- 1903 – 1979
- Geburtsort
- Gnesen (Posen, heute Gniezno, Polen)
- Sterbeort
- Westerland (Sylt)
- Beruf/Funktion
- SS-Offizier ; Politiker ; Jurist ; Nationalsozialist ; Bürgermeister
- Konfession
- evangelisch-lutherisch, seit 1942 konfessionslos
- Normdaten
- GND: 128604689 | OGND | VIAF: 26760114
- Namensvarianten
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- Reinefarth, Heinrich
- Reinefarth, Heinz
- Reinefarth, Heinrich
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Reinefarth, Heinrich (Heinz)
1903 – 1979
SS-Offizier, Politiker
Heinz Reinefarth war 1944 als Höherer SS- und Polizeiführer im Reichsgau „Wartheland“ maßgeblich an der Niederschlagung des Warschauer Aufstands beteiligt, der mehrere zehntausend Zivilisten zum Opfer fielen. Nach 1945 machte er als Bürgermeister von Westerland (Sylt) und schleswig-holsteinischer Landtagsabgeordneter Karriere. Anfang der 1960er Jahre zog er sich infolge juristischer Ermittlungen und öffentlicher Kontroversen um seine Person aus der Politik zurück.
Lebensdaten
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Autor/in
→Philipp Marti (Bern)
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Zitierweise
Marti, Philipp, „Reinefarth, Heinz“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.10.2022, URL: https://www.deutsche-biographie.de/128604689.html#dbocontent
Reinefarth wuchs in Gnesen (Posen, heute Gniezno, Polen) auf, studierte seit 1922 Jura an der Universität Jena und wurde 1930 als Rechtsanwalt in Forst (Lausitz) tätig. 1932 verlegte er seine Kanzlei nach Cottbus, wo er seit 1936 zudem als Notar praktizierte. Früh verhaftet in der völkischen Bewegung, trat er 1932 der NSDAP und SA bei, wechselte aber noch im selben Jahr von der SA zur SS. Anfang 1942 trat er auf Veranlassung seines Mentors Kurt Daluege (1897–1946) in das Hauptamt Ordnungspolizei in Berlin ein. Von 1942 bis 1943 wirkte Reinefarth als Generalinspekteur der Verwaltung im Protektorat Böhmen und Mähren sowie 1944/45 als Höherer SS- und Polizeiführer im Reichsgau „Wartheland“, wo er in die nationalsozialistische Germanisierungs- und Vernichtungspolitik involviert war.
Anfang August 1944 wurde Reinefarth von Heinrich Himmler (1900–1945) mit der Niederschlagung des Warschauer Aufstands beauftragt. Am 5. August 1944 wies er seine Unterführer bei einer Einsatzbesprechung gemäß Himmlers Befehl an, die gesamte nicht-deutsche Bevölkerung Warschaus zu töten. Den in der Folge durch deutsche Truppen verübten Massakern an der städtischen Zivilbevölkerung fielen mehrere zehntausend Menschen zum Opfer.
Im Mai 1945 geriet Reinefarth in Krimml (Zillertal, Tirol) in US-amerikanische Gefangenschaft. Vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Kriegs stellte er sich dem Counter Intelligence Corps der US-Army als Ost-Experte zur Verfügung und entging so einer Auslieferung nach Polen. Für seine öffentliche Wahrnehmung war Reinefarths letzter Posten im Zweiten Weltkrieg als Festungskommandant von Küstrin an der Oder von besonderer Bedeutung: Er nutzte den im März 1945 gegen den Befehl Adolf Hitlers (1889–1945) unternommenen Ausbruch aus der von der Roten Armee belagerten Festung, um sich als verantwortungsvoller und regimekritischer Funktionsträger zu stilisieren.
1948 ließ sich Reinefarth in Westerland auf Sylt nieder. Sein Verfahren vor der 1. Spruchkammer des Spruchgerichts Hamburg-Bergedorf endete 1949 mit einem Freispruch, das anschließende Entnazifizierungsverfahren in Flensburg letztlich mit der Einstufung als „entlastet“ (Kategorie V). Seit 1950 Mitglied im Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), wurde Reinefarth 1951 zum Bürgermeister von Westerland gewählt. Politisch erfolgreich und überparteilich geschätzt, begann in seiner Amtszeit der Wiederaufstieg des Nordseebads Westerland zu einem Urlaubsort von internationaler Ausstrahlung.
1957 geriet Reinefarth in das Visier der DDR-Propaganda, v. a. durch den Dokumentarfilm „Urlaub auf Sylt“ von Annelie Thorndike (1925–2012) und Andrew Thorndike (1909–1979) sowie durch Zeitungsartikel und Karikaturen. Der Freiburger Rechtshistoriker Hans Thieme (1906–2000), der 1944 als Wehrmachtsoffizier in Warschau Reinefarth begegnet war, belastete ihn im Januar 1958 in einem Leserbrief an „Der Spiegel“ schwer und verlieh den Angriffen aus der DDR Glaubwürdigkeit. Es folgte eine überregionale mediale Debatte über Reinefarths Vergangenheit, der dessen ungeachtet 1958 für den BHE in den Kieler Landtag einzog. In der Kontroverse um Reinefarth vermied der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel (1913–1997) eine klare Stellungnahme und wurde dadurch ebenfalls Ziel öffentlicher Kritik.
Als Reaktion auf Forschungsergebnisse des Historikers Hanns von Krannhals (1911–1970) zum Warschauer Aufstand von 1944 hob der Kieler Landtag 1961 die parlamentarische Immunität Reinefarths auf, der sich aufgrund der folgenden juristischen Ermittlungen aus der Kommunal- und Landespolitik zurückzog. Die Ermittlungen führten trotz zahlreicher belastender Indizien zu keiner Anklage; im Rahmen der geltenden Strafprozessordnung betrieben die Ermittlungsbeamten eine schematische Beweisführung, die dem Ausmaß und arbeitsteiligen Charakter des Massenmords von Warschau nicht gerecht wurde. 1967 wurde Reinefarth von der schleswig-holsteinischen Justiz außer Verfolgung gesetzt.
Der „Fall Reinefarth“ wirkte weit über die Grenzen Schleswig-Holsteins und der Bundesrepublik hinaus. 2014 kam es in Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag des Warschauer Aufstands zu einer neuen öffentlichen Debatte, in deren Folge sich der schleswig-holsteinische Landtag von seinem einstigen Mitglied distanzierte. Zudem wurde 2014 am Eingang des Rathauses von Westerland eine Mahntafel angebracht, die an die Opfer der Niederschlagung des Warschauer Aufstands erinnert.
1937 | Mitglied des Vereins „Lebensborn“ |
1939 | Eisernes Kreuz 2. Klasse |
1940 | Eisernes Kreuz 1. Klasse |
1940 | Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes |
1944 | Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes |
Nachlass:
Privatbesitz.
Weitere Archivmaterialien:
Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, München, MC 37 (Spruchgerichtsakten Heinz Reinefarth); ZS 1138 (Zeugenschriftentum Heinz Reinefarth, Onlineressource).
Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde, Bestand BDC (SS-Führer-Personalakte und RuSHA-Personalakte); R 3001/71 865 (Personalakte des Reichsjustizministeriums).
Landesarchiv Schleswig-Holstein, Schleswig, Abt. 786, Nr. 1543 (Personalakte des schleswig-holsteinischen Justizministeriums); Abt. 460.17, Nr. 313, Geschäftszeichen 11 544 (Entnazifizierungsakte Heinz Reinefarth).
Niclas Sennerteg, Warszawas bödel. Et tyskt öde, 2003.
Philipp Marti, Die zwei Karrieren des Heinz Reinefarth. Vom „Henker von Warschau“ zum Bürgermeister von Westerland, in: Demokratische Geschichte. Jahrbuch für Schleswig-Holstein 22 (2011), S. 167–192.
Philipp Marti, Der Fall Reinefarth. Eine biografische Studie zum öffentlichen und juristischen Umgang mit der NS-Vergangenheit, 2014, poln. 2016.
Philipp Marti, Der Fall Reinefarth, 1944–2014. Heinz Reinefarth und der Warschauer Aufstand. Aufarbeitung und erinnerungskulturelle Verschiebungen in Schleswig-Holstein, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2015. (Onlineressource)
Philipp Marti, Der Fall Heinz Reinefarth. SS-General, Kriegsverbrecher, Bürgermeister, Volksvertreter, in: Uwe Danker/Sebastian Lehmann-Himmel (Hg.), Landespolitik mit Vergangenheit. Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität nach 1945 in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive, 2017, S. 450–467.
Fotografien, Digitales Bildarchiv des Bundesarchivs.