Kammerer, Paul
- Lebensdaten
- 1880 – 1926
- Geburtsort
- Wien
- Sterbeort
- Puchberg am Schneeberg (Niederösterreich)
- Beruf/Funktion
- Zoologe ; Biologe ; Ichthyologe ; Komponist ; Genetiker
- Konfession
- unitarisch, später konfessionslos
- Normdaten
- GND: 116036028 | OGND | VIAF: 8128969
- Namensvarianten
-
- Kammerer, Paul Peter Rudolf
- Kammerer, Paul
- Kammerer, Paul Peter Rudolf
- Cammerer, Paul
- Kammerer, Paul Peter Rudolph
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Personen im NDB Artikel
- Alban Berg (1885–1935)
- Alma Maria Mahler-Werfel (1879–1964)
- Berthold Hatschek (1854–1941)
- Eugen Steinach (1861–1944)
- Friedrich Jodl (1849–1914)
- Gladwyn Kingsley Noble (1894–1940)
- Grete Wiesenthal (1885–1970)
- Gustav Mahler (1860–1911)
- Hans Przibram (1874–1944)
- Karl Grobben (1854–1945)
- Richard von Wettstein (1863–1931)
- Rudolf Huber-Wiesenthal (1884–1983)
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-
Kammerer, Paul Peter Rudolf
1880 – 1926
Zoologe, Biologe
Paul Kammerer war einer der bekanntesten Zoologen seiner Zeit. In der Biologischen Versuchsanstalt in Wien brachte er zwischen 1902 und 1920 erstaunliche Veränderungen am Erscheinungsbild von Tieren hervor, die die Debatte um die Vererbung erworbener Eigenschaften anfachte. Ihm gelang keine universitäre Karriere, da er Antisemitismus ausgesetzt war und als populärer Wissenschaftsvermittler und überzeugter Pazifist diskreditiert wurde. Der Verdacht der Fälschung seiner Forschungsergebnisse schien durch seinen Suizid bestätigt, ist bis heute aber ungeklärt.
Lebensdaten
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Autor/in
→Sandra Klos (Wien)
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Zitierweise
Klos, Sandra, „Kammerer, Paul“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.03.2024, URL: https://www.deutsche-biographie.de/116036028.html#dbocontent
Kammerer besuchte seit 1891 das k. k. Franz-Joseph-Gymnasium in Wien, legte bereits in seiner Jugend einen umfangreichen Privatzoo in der elterlichen Wohnung an und interessierte sich für Musik. Nach der Matura 1899 studierte er Zoologie an der Universität Wien. Daneben besuchte er musikwissenschaftliche Lehrveranstaltungen am Wiener Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde. Kammerer, der ausgezeichnet Klavier spielte und mit Künstlern wie Alma Maria Mahler-Werfel (1879–1964), Gustav Mahler (1860–1911), Alban Berg (1885–1935) und Grete Wiesenthal (1885–1970) befreundet war, veröffentlichte Anfang des 20. Jahrhunderts Lied-Kompositionen.
1902 wurde Kammerer aufgrund seiner Fähigkeiten in der Tierpflege von dem Zoologen Hans Przibram (1874–1944) eingeladen, an der gerade eröffneten, privat finanzierten Biologischen Versuchsanstalt (BVA) in Wien mitzuarbeiten. Mit der Einrichtung und Unterhaltung von Terrarien und Aquarien betraut, forschte Kammerer hier in den nächsten zwei Jahrzehnten. 1904 wurde er bei Berthold Hatschek (1854–1941), Karl Grobben (1854–1945), Richard von Wettstein (1863–1931) und Friedrich Jodl (1849–1914) an der Universität Wien zum Dr. phil. promoviert, brach für untauglich befunden seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger ab und nahm 1906 zum Broterwerb eine Stelle als Lehrer am Cottage-Lyzeum an, behielt aber seine unbezahlte Arbeit an der BVA bei. Die beiden ersten Gesuche Kammerers um eine Lehrbefugnis für Zoologie wurden – vermutlich auch aus antisemitischen Motiven – abgelehnt; 1910 wurde er für Zoologie mit besonderer Berücksichtigung der experimentellen Morphologie der Tiere habilitiert. Bis 1914 reiste er dreimal mit dem Forschungsschiff „Adria“ auf der Suche nach Grottenolmen in den dinarischen Karsthöhlen.
1914 wurde Kammerer bezahlter Adjunkt an der BVA, die von der Akademie der Wissenschaften in Wien übernommen wurde, und forschte in aufwendigen, mehrjährigen und generationsübergreifenden Tierexperimenten an der Vererbung erworbener Eigenschaften. So gelang es ihm, Grottenolme mit sehfähigen Augen zu züchten, wenn sie von Geburt an rotem Licht ausgesetzt waren. Alpen- und Feuersalamander hielt er im Lebensraum der jeweils anderen Art, weshalb sie nicht nur zusätzliche Flecken und Streifen ausbildeten, sondern diese auch an die nachfolgenden Generationen vererbten. Die Geburtshelferkröte entwickelte sog. Brunftschwielen, nachdem Kammerer die sich üblicherweise an Land paarende Amphibie gezwungen hatte, im Wasser zu leben. Dieses Merkmal soll über mehrere Generationen vererbt worden sein. 1906 erschien seine Studie „Experimentelle Veränderung der Fortpflanzungstätigkeit bei Geburtshelferkröte (Alytes obstetricans) und Laubfrosch (Hyla arborea)“ im „Archiv für Entwicklungsmechanik“ und ebendort 1909 eine Arbeit über das Verhalten von Geburtshelferkröten. Erst Jahrzehnte später entwickelte sich daraus ein wissenschaftlicher Streit, der die Ergebnisse Kammerers, insbesondere die der Vererblichkeit der erworbenen Eigenschaften, anzweifelte. Die aus Kammerers Forschungsergebnissen resultierende Frage, ob nur angeborene oder auch erworbene Eigenschaften vererbt werden können, wurde von Neodarwinisten und Neolamarckisten kontrovers diskutiert. Auch wenn Kammerer häufig dem Lamarckistischen Lager zugeordnet wird, sah er sich eher als Darwinist, der die Evolutionstheorie konzeptionell erweitern wollte.
Während des Ersten Weltkriegs ging Kammerers Tierbestand an der BVA zugrunde. 1915 legte er mit seiner „Allgemeinen Biologie“ einen populär gehaltenen und nach zehn Schlüsselbegriffen gegliederten Überblick der Lebenswissenschaften vor. In dieser Zeit als Leiter einer Zensurabteilung eingesetzt, unternahm Kammerer anhand von Kriegsgefangenenpost soziobiologische Studien, um den Einfluss neuer Umgebung auf den Menschen zu untersuchen, durchaus in Analogie zu seinen Versuchen mit Amphibien in der BVA. 1918 bemühte er sich um den Titel eines Professors, was 1919 vorgeblich wegen seines gerade erschienenen, spekulativen Werks „Das Gesetz der Serie“ abgelehnt wurde, wobei vermutlich erneut antisemitische Ressentiments sowie seine pazifistische und sozialistische Einstellung eine Rolle gespielt haben. In „Das Gesetz der Serie“ (1919) lieferte Kammerer eine Grundlegung der Serialität, indem er zufällige Koinzidenzen klassifizierte. In der Folge wandte sich Kammerers Interesse von der Experimentalzoologie ab und zur Hormonforschung hin. Dabei arbeitete er mit Eugen Steinach (1861–1944) zusammen. Kammerer versprach sich davon, die Ergebnisse seiner Amphibienversuche für den Menschen nutzbar zu machen.
1923 ließ Kammerer sich an der BVA pensionieren, ging auf Vortragsreise nach Großbritannien und 1923/24 sowie 1924/25 auf zwei große Vortrags- und Forschungsreisen in die USA. Da seine Forschungsergebnisse, wonach die Umgebung prägend für die Organismen sei, gut zur Ideologie der im Aufbau befindlichen Sowjetunion passten, erhielt er 1926 einen Ruf als Professor für Experimentalbiologie an die Akademie der Wissenschaften in Moskau.
Im Frühjahr 1926 deckte Gladwyn Kingsley Noble (1894–1940) an der BVA Manipulationen am einzig erhaltenen Geburtshelferkröten-Präparat auf; die Ausbildung von Brunftschwielen war nicht mehr einwandfrei nachweisbar. Nobles Artikel dazu erschien im August 1926 in „Nature“ und diskreditierte den zwischen Wissenschaft und Popularisierung wechselnden, offen als Freimaurer, Monist und Pazifist auftretenden Kammerer vollends. Sein Suizid wurde oft als Schuldeingeständnis aufgefasst, dabei können auch persönliche Motive eine Rolle gespielt haben. Mit Kammerer wurde der Streit zwischen Darwinisten und Lamarckisten erneut entfacht und auf die Eugenik, später auf die Epigenetik projiziert.
1895 | Mitglied des Vereins Lotus, Wien |
1909 | korrespondierendes Mitglied der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft |
1909 | Soemmering-Preis der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft |
1914 | Freimaurer |
1922 | auswärtiges Mitglied der Zoological Society, London |
Nachlass:
nicht bekannt.
Weitere Archivmaterialien:
Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Fritz Knoll, Biologische Versuchsstation (Vivarium), BG 02.
Universitätsarchiv Wien, Personalakt Paul Kammerer und PH RA 1671. (Rigorosenakt Paul Kammerer)
Österreichisches Staatsarchiv Wien, Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Unterricht allgemein, 1848–1940, Biologische Versuchsstation Wien, 1902–1919 und 1920–1940, Sig. 2a, Fasz. 128 u. 129; Professoren und Lehrkräfte. Anstellungen, Rang, Entlassung, Staatsbürgerschaft, Eide, Disziplinierung 1924–1926, Sig. 4C/1, Fasz. 756 u. Habilitationen 1919–1932, Sig. 2C/1, Fasz. 314.
Österreichische Nationalbibliothek Wien, Handschriftensammlung. (Briefe an Yella Freund, Heinrich Glücksmann, Alfons Petzold, Theodor Pintner und Felicitas Zwierzina-Ramberg)
Beitrag zur Erkenntnis der Verwandtschaftsverhältnisse von Salamandra atra und maculosa. Experimentelle und statistische Studie, in: Archiv für Entwicklungsmechanik 17 (1904), H. 2, S. 165–264. (Diss. phil.)
Experimentelle Veränderung der Fortpflanzungstätigkeit bei Geburtshelferkröte (Alytes obstetricans) und Laubfrosch (Hyla arborea), in: Archiv für Entwicklungsmechanik 22 (1906), H. 1–2, S. 48–140.
Vererbung erzwungener Fortpflanzungsanpassungen. III. Mitteilung: Die Nachkommen der nicht brutpflegenden Alytes obstetricans, in: Archiv für Entwicklungsmechanik 28 (1909), H. 4, S. 447–545.
Allgemeine Biologie, 1915, 31925.
Das Gesetz der Serie. Eine Lehre von den Wiederholungen im Lebens- und im Weltgeschehen, 1919.
Bibliografie:
Klaus Taschwer, Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit, 2016, S. 327–330.
Monografien:
Arthur Koestler, The Case of the Midwife Toad, 1971.
Klaus Taschwer, Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit, 2016. (P, Qu, W, L)
Klaus Taschwer (mit Johannes Feichtinger/Stefan Sienell/Heidemarie Uhl), Experimentalbiologie im Prater. Zur Geschichte der Biologischen Versuchsanstalt 1902–1945, 2016.
Artikel:
Albrecht Hirschmüller, Paul Kammerer und die Vererbung erworbener Eigenschaften, in: Medizinhistorisches Journal. Internationale Vierteljahrsschrift für Wissenschaftsgeschichte 26 (1991), S. 26–77.
Veronika Hofer, Rudolf Goldscheid, Paul Kammerer und die Biologen des Prater-Vivariums in der liberalen Volksbildung der Wiener Moderne, in: Mitchell G. Ash/Christian H. Stifter (Hg.), Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, 2002, S. 149–184.
Sander Gliboff, The Case of Paul Kammerer. Evolution und Experimentation in the Early 20th Century, in: Journal of the History of Biology 39 (2006), S. 525–563.
Cheryl A. Logan, Overheated Rats, Race, and the Double Gland. Paul Kammerer, Endocrinology and the Problem of Somatic Induction, in: Journal of the History of Biology 40 (2007), S. 683–725.
Sander Gliboff, Art. „Kammerer, Paul”, in: Noretta Koertge (Hg.), New Dictionary of Scientific Biography, Bd. 4, 2008, S. 76–80. (P)
Alexander O. Vargas, Did Paul Kammerer Discover Epigenetic Inheritance? A Modern Look at the Controversial Midwife Toad Experiments, in: Journal of Experimental Zoology Part B. Molecular and Developmental Evolution 312 (2009), S. 667–678.
Henning Ritter, Der Zufallsjäger. Paul Kammerer und das Gesetz der Serie, in: Merkur 64 (2010), S. 477–489.
Wolfgang L. Reiter, Zerstört und Vergessen. Die Biologische Versuchsanstalt und ihre Wissenschaftler/innen 1902–1945, in: ders., Aufbruch und Zerstörung. Zur Geschichte der Naturwissenschaften in Österreich 1850 bis 1950, 2017, S. 289–327.
Fotografie, Library of Congress, George Grantham Bain Collection, ID 36051. (Onlineressource).
Fotografie, Library of Congress, George Grantham Bain Collection, ID 37807. (Onlineressource)
Gemälde (Öl/Leinwand) v. Rudolf Huber-Wiesenthal (1884–1983), 1916, Naturhistorisches Museum Wien, Archiv für Wissenschaftsgeschichte, Portrait- und Bildersammlung, PORT0253