Giese, Hans
- Dates of Life
- 1920 – 1970
- Place of birth
- Frankfurt am Main
- Place of death
- Saint-Paul-de-Vence (Département Alpes-Maritimes, Frankreich)
- Occupation
- Psychiater ; Sexualforscher ; Sexualwissenschaftler
- Religious Denomination
- evangelisch-reformiert
- Authority Data
- GND: 118932446 | OGND | VIAF: 52488404
- Alternate Names
-
- Giese, Hans-Ernst Friedrich
- Giese, Hans
- Giese, Hans-Ernst Friedrich
- Giese, H.
- Giese, Hansernst
- Giese, Hansernst Friedrich
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- Index Theologicus (IxTheo)
- Frankfurter Personenlexikon [2014-]
Relations
Genealogical Section (NDB)
Life description (NDB)
- Alfred Charles Kinsey (1894–1956)
- Gunter Schmidt (geb. 1938)
- Hans Bürger-Prinz (1897–1976)
- Hans Lipps (1889–1941)
- Magnus Hirschfeld (1868–1935)
- Martin Dannecker (geb. 1942)
- Martin Heidegger (1889–1976)
- Reimut Reiche (geb. 1941)
- Veit Harlan (1899–1964)
- Volkmar Sigusch (1940–2023)
- Werner Villinger (1887–1961)
Personen in der GND - familiäre Beziehungen
Places
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Giese, Hans-Ernst Friedrich
1920 – 1970
Sexualforscher, Psychiater
Giese war der bedeutendste Sexualforscher der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik, der sich von der Sexualwissenschaft der 1920er Jahre abgrenzte, indem er deren sozialreformerische Projekte nicht fortsetzte, sich politisch von der Linken fernhielt und eine engagierte Emanzipationspolitik in Nachfolge von Magnus Hirschfeld (1868–1935) unterließ. Während seiner gesamten Karriere arbeitete Giese mit NS-belasteten Personen zusammen. Gleichwohl trug er dazu bei, die gesellschaftliche und juristische Benachteiligung sexueller Minderheiten aufzubrechen. Kernthema war die Entkriminalisierung des gleichgeschlechtlichen Begehrens im öffentlichen Diskurs und im Strafgesetzbuch, was 1969 teilweise gelang.
Dates of Life
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Author
→Florian G. Mildenberger (Berlin)
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Citation
Mildenberger, Florian G., „Giese, Hans“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.03.2024, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118932446.html#dbocontent
Giese besuchte seit 1926 eine Volksschule und ein Gymnasium in Frankfurt am Main und erhielt 1939 das Abitur. Eigentlich an Katholischer Theologie interessiert, studierte er auf Anraten der Familie Medizin und parallel Philosophie bei Hans Lipps (1889–1941), später bei Martin Heidegger (1889–1976). Er engagierte sich im NS-Studentenbund und wurde 1941 Mitglied der NSDAP. Giese sah keinen Widerspruch in seinem eigenen sexuellen Begehren und der nationalsozialistischen Ideologie.
1943 wurde er an der Universität Freiburg im Breisgau zum Dr. phil. und 1946 mit der Dissertation „Die Formen männlicher Homosexualität“ bei Werner Villinger (1887–1961) an der Universität Marburg an der Lahn zum Dr. med. promoviert. Anschließend bildete er sich als Assistent an der Universitätsklinik in Frankfurt am Main sowie 1947/48 am Institut für Hirnforschung in Neustadt (Schwarzwald) und Freiburg im Breisgau psychiatrisch weiter. Im Entnazifizierungsverfahren des Badischen Staatskommissariats für politische Säuberung in Freiburg im Breisgau 1948 erhielt er eine Jugendamnestie.
1949 begann Giese mit dem Aufbau des privaten Instituts für Sexualforschung und gründete mit dem Hamburger Psychiater Hans Bürger-Prinz (1897–1976) die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, deren Nestor Giese zeitlebens blieb. Er initiierte die Schriftenreihe „Beiträge zur Sexualforschung“, die neben Monografien Tagungsbeiträge der Gesellschaft herausgab und dem Fachpublikum sowie interessierten Laien und Studenten Einblick in die neueste Forschung gewährte. Hierzu trugen auch weitere Publikationen (Wörterbuch der Sexualwissenschaft, 1952; Mensch, Geschlecht, Gesellschaft, 1954) bei. Giese positionierte sich und seine Kollegen als Gegenspieler zu Alfred Charles Kinsey (1894–1956) und ordnete sich in das ordoliberale Gesellschaftsbild der Bundesrepublik ein. 1959 verlegte Giese das Institut und seinen Wohnsitz nach Hamburg, wo ihm Bürger-Prinz Arbeitsmöglichkeiten an der psychiatrischen Universitätsklinik bereitstellte. Giese wurde mit der Studie „Der homosexuelle Mann in der Welt“ für Psychiatrie und Sexualwissenschaft habilitiert. Eine öffentliche Förderung des Instituts erfolgte erst nach Gieses Tod.
Giese trug entscheidend dazu bei, den Diskurs über Sexualität auf wissenschaftlicher Ebene zu entpathologisieren und von Vorurteilen zu befreien. Er wirkte als Lektor für die Reihe „rororo sexologie“, beriet bei Filmproduktionen, z. B. 1956 bei der Neuinterpretation des Aufklärungsfilms „Anders als die Anderen“ durch Veit Harlan (1899–1964), und fungierte als Gerichtsgutachter bei Sittlichkeitsprozessen. Gieses Hauptaugenmerk galt der vorurteilslosen Erforschung und Entkriminalisierung der Homosexualität, die er als soziale Erscheinung betrachtete, ohne nach der Ätiologie zu fragen. Giese unterschied jedoch zwischen den wertvollen, die Kultur bereichernden Homosexuellen in festen Partnerschaften und den „haltlosen“, nur an sexuellem Genuss interessierten Personen. Im gesellschaftlichen Reformklima der 1960er Jahre begleitete er groß angelegte empirische Studien seiner Schüler Volkmar Sigusch (1940–2023) und Gunter Schmidt (geb. 1938) zur Ergründung des Sexualverhaltens verschiedener Teile der bundesdeutschen Bevölkerung (Arbeiter, Studenten) und trug so zur Institutionalisierung und Professionalisierung der Sexualwissenschaft in der Bundesrepublik bei. Als weitere Schüler zählen Martin Dannecker (geb. 1942) und Reimut Reiche (geb. 1941). Gegen Ende seines Lebens zerstritt sich Giese mit seinen Schülern über die grundsätzliche Frage einer Möglichkeit der „Therapie“ der Homosexualität im Zusammenhang mit der Forschungsrichtung der Lobotomie.
1950 | Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung |
1965 | außerplanmäßiger Professor, Universität Hamburg (1967 Professor) |
Nachlass:
Bundesarchiv, Koblenz, N 1134. (weiterführende Informationen)
Weiteres Archivmaterial:
Universitätsarchiv Frankfurt am Main, R9361-II-293706. (studentische Unterlagen, NS-Tätigkeit)
Universitätsarchiv Freiburg im Breisgau, B0024_5119 u. B0067_0351. (Entnazifizierung, Bewerbungsunterlagen)
Das Polaritätsprinzip in Goethes Dichtung, 1943. (Diss. phil.)
Die Formen männlicher Homosexualität. Untersuchung an 130 Fällen, 1947. (Diss. med.)
Wörterbuch der Sexualwissenschaft, 1952. (Hg.)
Mensch, Geschlecht, Gesellschaft. Das Geschlechtsleben unserer Zeit gemeinverständlich dargestellt, 1954. (Hg.)
Die Sexualität des Menschen. Handbuch der medizinischen Sexualforschung, 1953–1955, 21968–1971, poln. 1976.
Der homosexuelle Mann in der Welt, 1959, 21964, Taschenbuch 1972, franz 1959, span. 1965. (Habilitationsschrift)
Hans Giese/Victor E. v. Gebsattel (Hg.), Psychopathologie der Sexualität, 1962.
Hans Giese/Gunter Schmidt, Studenten-Sexualität. Verhalten und Einstellung. Eine Umfrage an 12 westdeutschen Universitäten, 1968.
Hans Giese/Hans Bürger-Prinz (Hg.), Beiträge zur Sexualforschung. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, 1950–1970. (47 Bde.)
N. N., Hans Giese, in: Der Spiegel Nr. 32 v. 2.8.1970. (Onlineressource)
Volkmar Sigusch, Hans Giese und seine Theorie der Homosexualität, in: Zeitschrift für Sexualforschung 10 (1997), S. 245–252.
Volkmar Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, 2008, S. 391 ff.
Martin Dannecker, Art. „Hans Giese (1920–1970)“, in: Volkmar Sigusch/Günter Grau (Hg.), Personenlexikon der Sexualforschung, 2009, S. 226–235.
Bernd-Ulrich Hergemöller, Art. „Giese, Hans“, in: ders. (Hg.), Mann für Mann. Biographisches Lexikon, 2010, S. 402–404. (P)
Moritz Liebeknecht, Wissen über Sex. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung im Spannungsfeld westdeutscher Wandlungsprozesse, 2020.
Fotografien, 1949–1968, Bundesarchiv, Koblenz. (weiterführende Informationen)