Kesten, Hermann
- Dates of Life
- 1900 – 1996
- Place of birth
- Podwołoczyska (Galizien, Österreich-Ungarn, heute Pidwolotschysk, Ukraine)
- Place of death
- Riehen (Kanton Basel-Stadt)
- Occupation
- Schriftsteller ; Übersetzer ; Übersetzer ; Herausgeber ; Lektor <Verlag> ; Publizist
- Religious Denomination
- jüdisch
- Authority Data
- GND: 118561715 | OGND | VIAF: 109378168
- Alternate Names
-
- Kesten, Hermann Chaim
- Kesten, Hermann
- Kesten, Hermann Chaim
- Kesten, German
- Kesten, Herman
- Cesten, Hermann
- Cesten, Hermann Chaim
- Cesten, German
- Cesten, Herman
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Kesten, Hermann Chaim
1900 – 1996
Schriftsteller, Übersetzer
Obwohl Hermann Kesten schon früh als Prosaautor auf sich aufmerksam machte und auch später Erfolg mit Essays, Erzählungen und Romanen hatte, sind seine Werke heute weitgehend vergessen. Dagegen in Erinnerung geblieben ist Kesten als eine zentrale Figur der Literaturszene des 20. Jahrhunderts und wegen seines Einsatzes für durch die Nationalsozialisten Verfolgte. Sein Name steht für eine liberale, humanistische Gesinnung, der er auf vielfältige Weise Ausdruck verlieh.
Dates of Life
-
Author
→Albert M. Debrunner (Basel)
-
Citation
Debrunner, Albert M., „Kesten, Hermann“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2023, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118561715.html#dbocontent
Kesten verbrachte seine ersten Lebensjahre in der galizischen Kleinstadt Podwołoczyska an der Grenze zwischen Russland und Österreich-Ungarn. Seine Eltern waren der westlichen Kultur, v. a. dem Geist der Aufklärung, zugewandt, zugleich aber im traditionellen Judentum verwurzelt. 1904 übersiedelte die Familie nach Nürnberg, wo Kesten die Volksschule an der Bismarckstraße, dann das Königliche Alte Gymnasium am Egidienberg besuchte, an dem er 1919 das Abitur machte.
Nach dem Tod des Vaters 1918 führte die Mutter das Geschäft für allerlei Waren in Nürnberg weiter und ermöglichte Kesten trotz knapper finanzieller Mittel ein Studium der Rechtswissenschaften, Nationalökonomie, Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Universität Erlangen, das er in Frankfurt am Main fortsetzte, 1923 jedoch abbrach, um im Geschäft der Mutter mitzuarbeiten. In dieser Zeit setzte er seine literarischen Versuche fort, mit denen er als Gymnasiast begonnen hatte.
Sein Durchbruch als Autor gelang Kesten 1926 mit der Veröffentlichung seiner Erzählung „Vergebliche Flucht“ in der „Frankfurter Zeitung“. Im Jahr darauf erschien im renommierten Gustav Kiepenheuer Verlag sein Romandebüt „Josef sucht die Freiheit“, das für den Kleist-Preis nominiert wurde und den Autor schlagartig bekannt machte. 1928 folgte Kesten einem Angebot des Verlags, für diesen in Berlin als Lektor zu arbeiten. Daneben schrieb er weitere Romane und Erzählungen, veröffentlichte Gedichte und versuchte erfolglos, als Dramatiker Fuß zu fassen. Zudem betätigte er sich mit seiner Schwester Gina als Übersetzer aus dem Französischen, u. a. von Werken der Autoren Julien Green (1900–1998), Henry Michaux (1899–1984) und Jules Romains (1885–1972). Bald wurde er zu einer festen Größe des literarischen Lebens in Berlin und verkehrte u. a. mit Erich Kästner (1899–1974), Ernst Toller (1893–1939) und Joseph Roth (1894–1939).
Einen Einschnitt in Kestens Leben und Karriere markierte die nationalsozialistische Machtübernahme. Ende März 1933 floh er mit seiner Ehefrau nach Paris, wo sie – mit Unterbrechungen in Nizza und Sanary-sur-mer – sieben Jahre lebten und er für den Amsterdamer Verlag Allert de Lange deutschsprachige Autorinnen und Autoren betreute. Kesten schrieb in dieser Zeit drei weitere Romane, darunter „Die Kinder von Gernika“ (1939), seine Reaktion auf die Zerstörung der baskischen Stadt durch deutsche und italienische Luftverbände.
Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs in Frankreich vorübergehend als feindlicher Ausländer in den Lagern Colombes und Nevers interniert, gelang Kesten 1940 die Flucht in die USA, wohin ihm seine Frau später folgte. Bis 1942 engagierte er sich mit Thomas Mann (1875–1955) im Emergency Rescue Committee in New York City für die Rettung der von durch die Nationalsozialisten Verfolgten. Er leistete die Kärrnerarbeit, schrieb Eingaben und wurde bei den Behörden vorstellig, während Thomas Mann mit seinem Namen im Hintergrund Garant für die Seriosität der Anträge war. Zahlreiche Schriftstellerkolleginnen und -kollegen wie Bertolt Brecht (1898–1956) verdankten Kesten ihr Leben.
1953 kehrte Kesten, der 1949 US-amerikanischer Staatsbürger geworden war, sich aber nach wie vor als Europäer fühlte, nach Europa zurück und ließ sich in Rom nieder, wo er literarisch produktiv wurde. Den Auftakt bildeten die literarischen Porträts „Meine Freunde die Poeten“ (1953), wegen derer Kesten heute noch bekannt ist und in denen er in erster Linie emigrierte Kolleginnen und Kollegen vor dem Vergessen bewahrte. Den Schlussstein zu seinem Werk setzte er 1974 mit seinem einzigen Gedichtband „Ich bin der ich bin“ (1974); im selben Jahr wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
Kesten nutzte die Festakte bei den ihm verliehenen Preisen, um sich als überzeugter liberaler Humanist zu positionieren, weswegen er gelegentlich mit Vertretern politisch linker Positionen in Konflikt geriet. So kam es 1961 im Rahmen eines Rundgesprächs in Mailand, an dem er mit Uwe Johnson (1934–1984) teilnahm, zur „Kesten-Affäre“, dem Disput um die angeblich apologetische Haltung Johnsons dem Berliner Mauerbau gegenüber, der Kestens Reputation dauerhaften Schaden zufügte. Nicht zuletzt wegen seiner Fähigkeit, in politischen und literarischen Debatten vermittelnd zu wirken, wurde Kesten 1972 zum Präsidenten des Deutschen PEN-Zentrums (Bundesrepublik) gewählt. Mit diesem Amt, das er bis 1976 innehatte, etablierte er sich endgültig als Doyen der bundesdeutschen Literaturszene.
Erschüttert vom Tod seiner Ehefrau 1977, verstummte Kesten literarisch. 1978 verließ er Rom, versuchte kurz, in New York City wieder sesshaft zu werden, und zog noch im selben Jahr nach Basel zu Martha Marc (gest. 1984), einer Jugendfreundin seiner Frau. Nach Martha Marcs Tod übersiedelte er in das jüdische Alters- und Pflegeheim La Charmille in Riehen (Kanton Basel-Stadt).
Kestens Name steht bis heute für politisch engagierte, sozialkritische Literatur. Kestens großes Thema war der Konflikt zwischen den Interessen und Bedürfnissen des Individuums und den Zwängen der Massengesellschaft, insbesondere in totalitären Staaten. Bis heute berufen sich liberale Geister auf ihn. Seinen Platz in der Literaturgeschichte verdankt er der Rolle, die er als Autor der Neuen Sachlichkeit sowie als Stimme des Exils gespielt hat. Zu Lebzeiten wurde sein Werk in zahlreiche Sprachen übersetzt und weltweit rezipiert. Allerdings geriet Kesten als Autor später in Vergessenheit, nicht zuletzt, weil er sich den geltenden Ideologien konsequent verweigerte. Deshalb wurde in der DDR nur ein einziges Werk, „Die Kinder von Gernika“, neu aufgelegt, das wegen seiner Kritik am Nationalsozialismus und am spanischen Faschismus den ostdeutschen Erwartungen an politische Literatur entsprach.
1950 | Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz |
1953 | korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt |
1954 | Kulturpreis der Stadt Nürnberg |
1969 | Premio di Calabria (Italien) |
1972–1976 | Präsident des Deutschen PEN-Zentrums (Bundesrepublik) |
1974 | Georg Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt |
1977 | Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund |
1978 | Dr. h. c., Universität Erlangen-Nürnberg |
1980 | Ehrenbürger der Stadt Nürnberg |
1982 | Dr. h. c., FU Berlin |
1985 | Hermann-Kesten-Medaille (seit 2007 Hermann-Kesten-Preis) des Deutschen PEN-Zentrums (Bundesrepublik) (zweijährlich, seit 1994 jährlich) (weiterführende Informationen) |
Nachlass:
Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek, München.
Selbstständige Publikationen:
Josef sucht die Freiheit. Roman, 1928.
Ein ausschweifender Mensch. Das Leben eines Tölpels. Roman, 1929.
Die Liebes-Ehe. 1929. (Novellen)
Babel oder Der Weg zur Macht. Drama in drei Akten, 1929.
Glückliche Menschen. Roman, 1931.
Hermann Kesten/Ernst Toller, Wunder in Amerika. Schauspiel, 1931.
Der Scharlatan. Roman, 1932.
Der Gerechte. Roman, Amsterdam 1934.
Ferdinand und Isabella. Roman, Amsterdam 1936, Neuausg. u. d. T. Sieg der Dämonen. Ferdinand und Isabella, 1972, 2006, poln. 1938, engl. 1946, span. 1946, 1995, schwed. 1949, franz. 1952, niederl. 1981.
König Philipp der Zweite. Roman, Amsterdam 1938, Neuausg. 1982, Neuausg. u. d. T. Ich, der König. Philipp der Zweite, 1950, 1969, engl. 1940, franz. 1957, span. 1959, 1994, portugies. 1959, poln. 1969, slowen. 1980.
Die Kinder von Gernika. Roman, Amsterdam 1939, mehrere Neuaufl., span. 1945, ital. 1954, franz. 1954, serbokroat. 1957, slowen. 1960, mazedon. 1962, poln. 1963, japan. 1963, schwed. 1966, türk. 1982, niederl. 1984.
Copernicus and his World, New York City 1945, dt. Copernicus und seine Welt, Amsterdam 1948. (Biografie)
The Twins of Nuremberg, New York City 1946, dt. Die Zwillinge von Nürnberg, Amsterdam 1947, Neuausg. 2003, engl. 1946, schwed. 1948, niederl. 1969. (Roman)
Meine Freunde die Poeten, 1953, wesentlich erw. Ausg. 1959. (Biografische Porträts)
Ein Sohn des Glücks, 1955. (Roman)
Mit Geduld kann man sogar das Leben aushalten, 1957. (Erzählungen)
Dichter im Café, 1959. (Biografische Porträts)
Der Geist der Unruhe, 1959. (Essays)
Gotthold Ephraim Lessing. Ein deutscher Moralist, 1960. (Essay)
Die Abenteuer eines Moralisten, 1961, Neuausg. 2007, serbokroat. 1965. (Roman)
Filialen des Parnass, 1961. (Essays)
Die dreissig Erzählungen, 1962.
Lauter Literaten, 1963. (Essays)
Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949, 1964. (Hg.)
Die Zeit der Narren, 1966. (Essays)
Die Lust am Leben. Boccaccio, Aretino, Casanova, 1968. (Biografische Porträts)
Hymne für Holland, 1970. (Essay)
Ein Optimist, 1970. (Roman)
Ein Mann von sechzig Jahren, 1972. (Roman)
Revolutionäre mit Geduld, 1973. (Essays)
Ich bin der ich bin. Verse eines Zeitgenossen, 1974. (Lyrik)
Herausgeberschaften:
Vierundzwanzig neue deutsche Erzähler, 1929.
Félix Bertaux/Hermann Kesten (Hg.), Neue französische Erzähler, 1930.
Heinrich Heine. Meisterwerke in Vers und Prosa, Stockholm/Amsterdam 1939.
The Blue Flower. Best Stories of the Romanticists, New York 1946, dt. Die blaue Blume. Die schönsten romantischen Erzählungen der Weltliteratur, 1955.
Unsere Zeit. Die schönsten deutschen Erzählungen des zwanzigsten Jahrhunderts, 1956.
Kurt Tucholsky. Man sollte mal... Eine Auswahl v. Hermann Kesten, 1957.
Die wirkliche Welt. Realistische Erzähler der Weltliteratur, 1962.
Europa heute. Prosa und Poesie seit 1945, 1963.
Ich lebe nicht in der Bundesrepublik, 1964.
Joseph Roth, Briefe 1911–1939, 1970.
Thomas Mann, Diaries 1918–1939. Selection and Foreword by Hermann Kesten, 1982.
Werkausgaben:
Gesammelte Werke in Einzelausgaben, 11 Bde., 1966–1974.
Ausgewählte Werke, 20 Bde., 1980–1984.
Übersetzungen:
Gina Kesten/Hermann Kesten, Julien Green, Leviathan, 1930.
Jean Giraudoux, Die Abenteuer des Jérome Bardini, 1932.
John Gunther, So sehe ich Asien!, Amsterdam 1940.
Stephen Vincent Benét, Amerika, New York 1945.
Monografien und Sammelbände:
Hermann Kesten. Ein Buch der Freunde, zum 60. Geburtstag am 28. Januar 1960, 1960.
Andreas Winkler, Hermann Kesten im Exil (1933–1940), 1977.
Horst Bienek, Hommage à Hermann Kesten, 1980. (P)
Wolfgang Buhl/Ulf von Dewitz (Hg.), „Ich hatte Glück mit Menschen“. Zum 100. Geburtstag des Dichters Hermann Kesten, 2000. (P)
Manfred Schreiner/Peter Löw (Hg.), Lust auf Hermann Kesten. Blind Date mit einem Weltbürger, 2000.
Walter Fähnders/Hendrik Weber (Hg.), Dichter, Literat, Emigrant. Über Hermann Kesten, 2005.
Albert M. Debrunner, „Zu Hause im 20. Jahrhundert“. Hermann Kesten. Biographie, 2017. (P)
Private Homepage zu Hermann Kesten. (W, L, P, Video- und Audioressourcen)
Gemälde (Acryl/Leinwand) „Hermann Kesten im Café“ v. Michael Matthias Prechtl (1926–2003), 1975/79, Nürnberg, Altes Rathaus, Kleiner Ratssaal. (Onlineressource)
Fotografien im Nachlass, Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek, München.