Kantorowicz, Alfred
- Lebensdaten
- 1880 – 1962
- Geburtsort
- Posen (Preußen, heute Poznań, Polen)
- Sterbeort
- Bonn
- Beruf/Funktion
- Zahnarzt ; Mediziner ; Kommunalpolitiker ; Arzt
- Konfession
- jüdisch, später konfessionslos
- Normdaten
- GND: 119080680 | OGND | VIAF: 78823082
- Namensvarianten
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- Kantorowicz, Alfred
- Cantorowicz, Alfred
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Kantorowicz, Alfred
1880 – 1962
Zahnarzt, Mediziner, Kommunalpolitiker
Alfred Kantorowicz gilt als einer der bedeutendsten zahnärztlichen Hochschullehrer des 20. Jahrhunderts, der aufgrund seiner Verfolgung als jüdischer Wissenschaftler sowohl in Deutschland als auch in der Türkei wirkte. Er wurde zum Wegbereiter der Schul- und Jugendzahnpflege und war ein prominenter Fürsprecher der sozialen Kieferorthopädie, die das Ziel verfolgte, kieferorthopädische Behandlungen allen sozialen Schichten zugänglich zu machen.
Lebensdaten
Geboren am 18. Juni 1880 in Posen (Preußen, heute Poznań, Polen) Gestorben am 6. März 1962 in Bonn Grabstätte Poppelsdorfer Friedhof (Ehrengrab) in Bonn Konfession jüdisch, später konfessionslos -
Autor/in
→Dominik Groß (Aachen)
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Zitierweise
Groß, Dominik, „Kantorowicz, Alfred“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.10.2022, URL: https://www.deutsche-biographie.de/119080680.html#dbocontent
Nach der Mittleren Reife 1897 studierte Kantorowicz in Berlin Zahnheilkunde, absolvierte im Dezember 1900 die zahnärztliche Prüfung und erlangte die Approbation. Nach einer Tätigkeit in einer Zahnarztpraxis 1901 für ein halbes Jahr holte er 1902 als Externer am Luisengymnasium in Berlin das Abitur nach. Anschließend studierte er Medizin an den Universitäten Berlin, München und Freiburg im Breisgau, wo er 1905 die ärztliche Prüfung ablegte, zum Dr. med. promoviert wurde und im August 1906 die ärztliche Approbation erwarb. Es folgten Stationen als Assistenzarzt am Rudolf-Virchow-Krankenhaus Berlin in der Inneren Medizin, der Infektiologie und der Chirurgie. 1909 wechselte Kantorowicz an das Zahnärztliche Institut der Universität München als Assistent von Otto Walkhoff (1860–1934). 1910 übernahm er eine Assistentenstelle am Zahnärztlichen Institut der Universität Göttingen, wo er sich im Dezember 1911 für Zahnheilkunde habilitierte. Im Januar 1912 an das Zahnärztliche Institut der Universität München zurückgekehrt, habilitierte er sich im März 1912 um und wurde hier zum Privatdozenten ernannt.
Nach Beginn des Ersten Weltkriegs leistete Kantorowicz freiwilligen Kriegsdienst, u. a. an der Front und im Reservelazarett Hagenau (Elsass). Im Juni 1918 wurde er Titularprofessor an der Universität Bonn und zudem Leiter der Bonner Schulzahnpflege. Im Wintersemester 1918/19 übernahm er die Direktion des Zahnärztlichen Instituts der Universität Bonn. 1919 etablierte er eine kieferorthopädisch ausgerichtete, dem Institut zugeordnete Schulzahnklinik. Er war seit 1919/20 Mitglied der SPD-Fraktion im Stadtparlament Bonn. Nach der Ernennung zum außerordentlichen Professor im August 1921 avancierte er im April 1923 zum persönlichen ordentlichen Professor für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten. Ihm gelang ein sukzessiver räumlicher und personeller Ausbau des Instituts, weshalb auch die Forschungsaktivitäten zunahmen.
1933 wurde Kantorowicz aufgrund seiner jüdischen Herkunft sowie seines Engagements im „Verein sozialistischer Ärzte“ und in der Kommunalpolitik aus dem Staatsdienst entlassen, verhaftet und in das Konzentrationslager Börgermoor (Emsland), später in das Konzentrationslager Lichtenburg verbracht. Im November 1933 erfolgte offenbar nach Intervention des Kronprinzen Carl von Schweden (1861–1951), dem Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes, Kantorowicz‘ Freilassung. Zur Jahreswende 1933/34 emigrierte Kantorowicz über die Schweiz in die Türkei, wo er am Zahnmedizinischen Institut der Medizinischen Fakultät der Universität Istanbul als Dozent für Prothetik in der vorklinischen Abteilung und seit ca. 1934 als wissenschaftlicher Direktor, Ordinarius und Leiter der Klinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten (einschließlich der Klinik für konservierende Zahnheilkunde und der Klinik für Orthodontie) wirkte. In der Zwischenzeit war ihm im Dezember 1933 auf Antrag von Bonner Fakultätskollegen die 1926 verliehene Ehrendoktorwürde in absentia entzogen worden.
Kantorowicz reformierte das Zahnmedizinstudium in der Türkei und hob das Istanbuler Zahnmedizinische Institut auf internationales Niveau. 1947 lehnte er aufgrund eines zuvor erlittenen Herzinfarkts einen Rückruf an die Universität Bonn ab. Nach der Emeritierung 1948 in Istanbul kehrte er 1950 nach Bonn zurück, nahm Lehraufträge an der Universität wahr und fungierte von 1950 bis 1956 als Fachberater für Fragen der Schulzahnpflege im Ministerium für Arbeit und Soziales Nordrhein-Westfalens.
Kantorowicz, der als einer der bedeutendsten zahnärztlichen Hochschullehrer des 20. Jahrhunderts gilt, entwickelte in den 1920er Jahren das „Bonner System“ bzw. die „Bonner Schule“, ein weltweit beachtetes Konzept, das u. a. eine automobile Zahnstation, hauptamtliche Jugendzahnärzte und eine breit angelegte Zahn- und Rachitisprophylaxe bei Schulkindern durch Einsatz des Vitamin-D-Präparats Vigantol sowie durch frühzeitige und regelmäßige Kontrolluntersuchungen umfasste. Kantorowicz verfolgte das Ziel, allen Bedürftigen kieferorthopädische Behandlungen zugänglich zu machen. Zudem betätigte er sich in der Prothetik, wo er u. a. den „Saugabdruck nach Kantorowicz“ etablierte. Er forschte jahrzehntelang zur Kariologie und war Inhaber mehrerer Patente. Große Bedeutung erlangte das von ihm herausgegebene vierbändige „Handwörterbuch der gesamten Zahnheilkunde“, in dem alle Fachbegriffe und zahnheilkundlichen Verfahren beschrieben wurden. Fachpolitisch sprach sich Kantorowicz gegen einen Fortbestand der Berufsgruppe der Dentisten aus. Zu seinen bedeutendsten Schülern zählten Gustav Korkhaus (1895–1978), Wilhelm Balters (1893–1973) und Karl Friedrich Schmidhuber (1895–1967) aus seiner Bonner Zeit sowie in Istanbul Lem’i Belger (1909–1994).
um 1905 | Promotionspreis an der Universität Berlin |
1917 | Eisernes Kreuz II. Klasse |
1926 | Dr. med. dent. h. c., Universität Bonn (1933 aberkannt) |
1951 | Mitinitiator der Rekonstitution der Arbeitsgemeinschaft für Prothetik und Werkstoffkunde |
1955 | Dr. med. h. c., Universität Bonn |
1958 | Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde |
1958 | Ehrendoktorwürde der Universität Istanbul |
1961 | Gedenkfeier der Medizinischen Hochschule der Universität Istanbul |
1962 | Festakt anlässlich des Goldenes Dozentenjubiläums (Lectio aurea) an der Bonner Klinik |
1979 | Internationale Gedenkfeier in Istanbul |
2001 | Kantorowicz-Hörsaal, Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität Bonn |
2017 | Ehrengrab, Bonn |
Nachlass:
nicht bekannt.
Gedruckte Quellen:
Briefe und Selbstzeugnisse, in: Ali Vicdani Doyum, Alfred Kantorowicz unter besonderer Berücksichtigung seines Wirkens in Istanbul, 1985. (P)
über 130 Publikationen.
Kritik der neueren Methoden der Perkussion, 1906. (Diss. med.)
Bakteriologische und histologische Untersuchungen über die Caries des Dentins, 1911. (Habilitationsschrift)
Über die Ursachen der Misserfolge der heutigen Schulzahnpflege, in: Deutsche Monatsschrift für Zahnheilkunde 32 (1914), S. 577–587.
Die Zukunft der Zahnheilkunde und die zahnärztliche Sanierung des deutschen Volkes, 1919.
Alfred Kantorowicz/Wilhelm Balters, Zahnärztliche Technik, 1920, 21926.
Klinische Zahnheilkunde, 2 Bde., 1924, 31930.
Carl Partsch/Christian Bruhn/Alfred Kantorowicz, Handbuch der Zahnheilkunde, 2. Bd. Konservierende Zahnheilkunde, 1925, 21925.
Die schulzahnärztliche Versorgung der Landschulkinder mittels automobiler Zahnstationen, in: Zahnärztliche Rundschau 37 (1928), S. 56–63.
Rachitisbekämpfung, orthodontische Prophylaxe und Schulzahnpflege, in: Zahnärztliche Rundschau 37 (1928), S. 1950–1957.
Handwörterbuch der gesamten Zahnheilkunde, 4 Bde., 1929–1931. (Hg.)
Zur Statik der partiellen Prothese, in: Deutsche Zahnärztliche Zeitung 4 (1949), S. 141–162.
Hemmung und Förderung des Wachstums des Kiefers, in: Zahnärztliche Welt 6 (1949), S. 141–148 u. S. 151 f.
Repetitorium der klinischen Zahnheilkunde für das Staatsexamen, 1949.
Die Epidemiologie der Karies in Deutschland und ihre Beziehung zur Fluorprophylaxe, in: Deutsche Zahnärztliche Zeitung 10 (1955), S. 292–302.
Die Kariesvorbeugung durch Hygienisierung des Schmelzbildungsalters, in: Internationale Zeitschrift für Vitaminforschung Beiheft 28 (1958), Suppl. 7, S. 7–22.
Patente:
Filmpackung, insbesondere für Röntgenaufnahmen, DE000000421 494A, angemeldet 23.4.1924, veröffentlicht 13.11.1925.
Einrichtung für die Aufhängung elektrischer Mundlampen, insbesondere für zahnärztliche Zwecke, DE000000424 935A, angemeldet 5.6.1924, veröffentlicht 9.2.1926.
Hilfsvorrichtung für Artikulatoren zu zahnärztlichen o. dgl. Zwecken, DE000000508 921A, veröffentlicht 2.10.1930.
Hans Joachim Tholuck, Alfred Kantorowicz und die planmässige Schulzahnpflege, in: Zahnärztliche Welt 5 (1950), S. 333–336.
Ingeborg Rose, Alfred Kantorowicz. Sein Leben und seine Bedeutung für die Zahnheilkunde, 1969. (P, W)
Linda Marion Krebs, Das Leben und das Werk von Alfred Kantorowicz (1880–1962), in: Türk-Alman tıbbi ilişkileri Simpozyumu bildirileri, 1981, S. 195–201.
Ali Vicdani Doyum, Alfred Kantoworicz unter besonderer Berücksichtigung seines Wirkens in Istanbul, 1985.
Rosemarie Mattern, Alfred Kantoworicz und Gustav Korkhaus, 2009.
Dominik Groß, Alfred Kantoworicz. Wegbereiter der Jugendzahnpflege, in: Zahnärztliche Mitteilungen 108 (2018), S. 734 f.
Dominik Groß, Art. „Alfred Kantoworicz“, in: ders. (Hg.), Lexikon der Zahnärzte und Kieferchirurgen im „Dritten Reich“ und im Nachkriegsdeutschland. Täter, Mitläufer, Oppositionelle, Verfolgte, Unbeteiligte. Bd. 1, 2022, S. 666–673.
Fotografien, Abbildung in: Münchener medizinische Wochenschrift 80 (1933), H. 2, Beil., S. 6; Deutsche Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde 13 (1950), S. 433; Deutsche Zahnärztliche Zeitung 5 (1950), S. 869 und Fortschritte der Kieferorthopädie 22 (1962), S. 506.