Müller, Richard
- Lebensdaten
- 1880 – 1943
- Geburtsort
- Weira (Sachsen-Weimar)
- Sterbeort
- Berlin
- Beruf/Funktion
- Politiker ; Gewerkschaftsfunktionär ; Metallarbeiter
- Konfession
- evangelisch-lutherisch, zuletzt konfessionslos
- Normdaten
- GND: 13410515X | OGND | VIAF: 18432574
- Namensvarianten
-
- Müller, Richard Louis
- Müller, Richard
- Müller, Richard Louis
- Müller, Richard
- Müller, Richard Louis
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Müller, Richard Louis
1880 – 1943
Politiker, Gewerkschaftsfunktionär
Als Organisator mehrerer Massenstreiks gegen den Ersten Weltkrieg hatte Richard Müller entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Novemberrevolution 1918 und der Rätebewegung. Er war 1918/19 Vorsitzender des Berliner Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte und verfasste 1924/25 eine einflussreiche, bis heute rezipierte Darstellung der Revolution.
Lebensdaten
Geboren am 9. Dezember 1880 in Weira (Sachsen-Weimar) Gestorben am 11. Mai 1943 in Berlin Grabstätte unbekannt Konfession evangelisch-lutherisch, zuletzt konfessionslos -
Autor/in
→Ralf Hoffrogge (Bochum/Potsdam)
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Zitierweise
Hoffrogge, Ralf, „Müller, Richard“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2022, URL: https://www.deutsche-biographie.de/13410515X.html#dbocontent
Müller wurde im Alter von 15 Jahren Vollwaise und absolvierte eine Lehre zum Dreher. Seit 1906 Mitglied der SPD und des Deutschen Metallarbeiter-Verbands (DMV), trat er erstmals 1911 in dessen Zeitung mit einem Artikel gegen den Taylorismus hervor. Im DMV stieg er 1914 zum Branchenleiter der Berliner Dreher auf. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs lehnte er die von der DMV-Leitung vertretene Politik des Streikverzichts ab und opponierte auf dem Verbandstag 1917 mit Robert Dißmann (1878–1926) gegen die „Burgfriedenspolitik“.
In Berlin führte Müller seit etwa 1916 eine Antikriegs-Opposition an, die Ende 1918 als „revolutionäre Obleute“ bekannt wurde. Im Juni 1916 organisierte er einen Solidaritätsstreik für den inhaftierten Karl Liebknecht (1871–1919) mit rund 55 000 Teilnehmern. Für seine politische Tätigkeit wurde er im Sommer 1916 und April 1917 verhaftet und zum Kriegsdienst eingezogen, aus diesem aber jeweils rasch wieder entlassen. Müller trat 1917 der USPD bei, die er als politische Plattform nutzte, ohne sich an die Anweisungen der Parteispitze gebunden zu fühlen. Mit der Spartakusgruppe um Liebknecht und Rosa Luxemburg (1871–1919) kooperierte er, lehnte deren Taktik eskalierender Straßendemonstrationen aber ab, da er die zu erwartende Polizeigewalt für demobilisierend statt radikalisierend hielt.
Auf einer Versammlung der Berliner Dreher rief Müller am 27. Januar 1918 zu einem Massenstreik auf, der Frieden, Pressefreiheit, Demokratisierung und Versorgungssicherheit, aber noch keine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft einforderte. Er wirkte im leitenden Aktionsausschuss mit, der zum Vorbild vieler Arbeiterräte wurde. Nach dem Ende des Januarstreiks, dem sich allein in Berlin mehr als 400 000 Menschen angeschlossen hatten, wurde Müller erneut zum Militär eingezogen und erst im September entlassen.
Müller war Teil eines klandestinen Berliner Zirkels aus Obleuten, USPD-Vertretern und Spartakusgruppe, der etwa im Herbst 1918 als „Arbeiterrat“ zusammentrat. In diesem Rahmen wehrte er bis Anfang November 1918 die Forderung Liebknechts nach einem sofortigen Umsturz ab und setzte sich mit seinem Votum für einen späteren Zeitpunkt durch, so dass ein Generalstreik mit bewaffneten Demonstrationen für den 11. November vereinbart wurde. Als die Meuterei in der kaiserlichen Flotte diesen Plan obsolet machte, erließ der „Arbeiterrat“ am 8. November einen Streikaufruf, der den Auftakt zur Novemberrevolution in Berlin bildete.
Mit der Wahl zum Vorsitzenden des „Vollzugsrats des Arbeiter- und Soldatenrates Groß-Berlin“ am 10. November 1918 wurde Müller einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Da er den Vorsitz mit dem SPD-Politiker Brutus Molkenbuhr (1881–1959) teilte und die Mandate des Rats paritätisch zwischen USPD (besetzt von den Obleuten) und SPD aufgeteilt wurden, konnte er seinen politischen Führungsanspruch nicht durchsetzen. Formal war Müller bis Dezember 1918 Staatsoberhaupt der „Deutschen Sozialistischen Republik“, da der Vollzugsrat dem Rat der Volksbeauftragten übergeordnet wurde. Zu einer traumatischen Zäsur seiner politischen Karriere wurde der am 16. Dezember 1918 von ihm eröffnete, erste Reichsrätekongress, der Müllers Forderung nach einer Räteverfassung ablehnte und für eine verfassunggebende Nationalversammlung stimmte.
1919 entwickelte Müller mit Ernst Däumig (1866–1922) das Konzept des „Reinen Rätesystems“, in dem Räte ohne Beteiligung der Unternehmer Parlamente, Stadt- und Gemeinderäte ersetzen sollten. Als dies nicht durchsetzbar war, trat Müller dafür ein, die Räte in der Weimarer Verfassung zu verankern. Diese Forderung wurde im Frühjahr 1919 nach einem Generalstreik, an dessen Leitung er beteiligt war, in Form des Artikels 165 der Weimarer Verfassung teilweise erreicht. Mit dem Ziel, die schwächer werdende Rätebewegung zu erhalten, baute Müller in Berlin eine Betriebsrätezentrale auf, konnte jedoch nicht verhindern, dass der erste Reichskongress der Betriebsräte diese im Oktober 1920 den Gewerkschaften unterordnete.
Ende 1920 trat Müller zur KPD über, die er lange wegen ihres „Putschismus“ abgelehnt hatte, und wurde aus dem DMV ausgeschlossen. Bereits 1921 geriet er in Konflikt mit der KPD-Zentrale, nachdem er den kommunistischen Aufstand in Mitteldeutschland (Märzkämpfe) zunächst parteiintern, dann öffentlich verurteilt hatte. Trotz einer für ihn günstigen Schlichtung in Moskau verlor Müller noch 1921 alle Parteifunktionen. Seinem Ausschluss aus der KPD widersprach er 1924 ohne Erfolg schriftlich bei der Komintern.
1924/25 publizierte Müller eine dreibändige Geschichte der Novemberrevolution, die zu den wenigen zeitgenössischen Darstellungen zählt, die sich einer eindeutigen parteipolitischen Tendenz entzogen. In der bundesdeutschen Studierendenbewegung wiederentdeckt, hatte Müllers Arbeit u. a. auf Sebastian Haffners (1907–1999) umstrittene Schrift „Die verratene Revolution“ (1969) und Peter von Oertzens (1924–2008) Studie „Betriebsräte in der Novemberrevolution“ (1963, 21976) großen Einfluss. Um 1928 zog sich Müller aus Politik und Öffentlichkeit zurück und gelangte anschließend als Immobilienunternehmer (Phöbus-Bau GmbH) zu Wohlstand.
Nachlass:
nicht bekannt.
Weitere Archivmaterialien:
Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde, R 1507 (Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung, Lageberichte); R 8034-II (Reichslandbund Pressearchiv); SAPMO-BArch, RY 23/45 (Materialien über die Entstehung der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition).
Russisches staatliches Archiv für soziale und politische Geschichte (RGASPI), Moskau, Komintern, F. 495 op. 205, d. 9343: Lichnoe delo Mjuller, Richard (Personalakte Richard Müller, auszugsweise veröffentlicht in: Ralf Hoffrogge, Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, 2. korr. u. erw. Aufl. 2018, S. 227–243).
Gedruckte Quellen:
Hartfrid Krause (Bearb.), Protokolle der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 1976.
Gerhard Engel/Bärbel Holtz/Ingo Materna (Hg.), Groß-Berliner Arbeiter und Soldatenräte in der Revolution 1918/1919. Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates, 3 Bde., 1993–2002.
Ralf Hoffrogge/Dieter Braeg (Hg.), Allgemeiner Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. 16.–20. Dezember 1918 Berlin. Stenografische Berichte. Neuausg. zum 100. Jahrestag, 2018.
Die Agitation in der Dreherbranche, hg. v. der Agitationskommission der Eisen-, Metall- und Revolverdreher der Verwaltungsstelle Berlin des DMV, 1913.
Bericht der Agitationskommission der Eisen-, Metall- und Revolverdreher der Verwaltungsstelle Berlin des deutschen Metallarbeiter-Verbandes für das Geschäftsjahr 1914/1915, 1915.
Ernst Däumig/Richard Müller, Hie Gewerkschaft – Hie Betriebs-Organisation – zwei Reden zum heutigen Streit um die Gewerkschaften, 1919.
Die Entstehung des Rätegedankens, in: Ignaz Jezower (Hg.), Die Befreiung der Menschheit. Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart, 1921.
Auf dem Weg zur KAPD, in: Sowjet (1921), Nr. 2, S. 44–48.
Gewerkschaften und Revolution, in: Sowjet (1921), Nr. 3, S. 86–90.
Vom Kaiserreich zur Republik, 3 Bde., 1924/25, Neuausg. 1974, 21979, Neuausg. in einem Bd., hg. v. Ralf Hoffrogge, 2011, 132018.
Report by the Executive Council of the Workers’s and Soldiers’ Councils of Great Berlin, in: Gabriel Kuhn (Hg.), All Power to the Councils! A Documentary History of the German Revolution of 1918-1919, 2012, S. 31–40.
Democracy or Dictatorship, in: ebd., S. 59–76.
Fritz Opel, Der deutsche Metallarbeiter-Verband während des Ersten Weltkrieges und der Revolution, 1957, 41980.
Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, 1985.
Ottokar Luban, Spartakusgruppe, Revolutionäre Obleute und die politischen Massenstreiks während des Ersten Weltkrieges. in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, Nr. 40 (2008), S. 23–38.
Hermann Weber/Andreas Herbst, Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, 22008, S. 620 f. (Onlineressource)
Ralf Hoffrogge, Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, 2008, 2. korr. u. erw. Aufl. 2018, engl. 2014, franz. 2018, chines. 2021.
Ralf Hoffrogge, Richard Müller, in: Günter Benser (Hg.), „Bewahren - Verbreiten – Aufklären“. Archivare, Bibliothekare und Sammler der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung, 2009, S. 209–215. (Onlineressource)
Dietmar Lange, Massenstreik und Schießbefehl. Der Generalstreik und die Märzkämpfe in Berlin 1919, 2012.
Axel Weipert, Die zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920, 2015.
Dirk H. Müller, Die revolutionären Obleute und der November 1918. Zur Verschränkung von institutioneller Revolution und Rätebewegung, 2019.
Fotografie, ca. 1920, Digitales Bildarchiv des Bundesarchivs.