Kehr, Eckart
- Lebensdaten
- 1902 – 1933
- Geburtsort
- Brandenburg/Havel
- Sterbeort
- Washington
- Beruf/Funktion
- Historiker
- Konfession
- evangelisch?
- Normdaten
- GND: 11609284X | OGND | VIAF: 22884315
- Namensvarianten
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- Kehr, Eckart
- Kehr, Eckard
- Cehr, Eckart
- Cehr, Eckard
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Kehr, Eckart
Historiker, * 21.6.1902 Brandenburg/Havel, † 29.5.1933 Washington.
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Genealogie
V Huldreich (1858–1929), Dr. phil., Geh. Studienrat, Oberstudiendir. d. Ritterak. u. Domherr d. Hochstifts Brandenburg, S d. Karl (s. Gen. 2);
M Minna Herminghausen (1870–1963);
Ov →Paul Fridolin (s. 2);
- ⚭ 1932 Hanna Herminghausen (1905–59, Cousine); kinderlos. -
Biographie
K. studierte in Berlin Geschichte, Philosophie, Ökonomie und Soziologie vor allem bei →Meinecke, →Troeltsch, →Harnack, Smend und →Spranger. 1927 promovierte er bei →Meinecke mit einer auf breiten Quellenstudien basierenden Arbeit über „Schlachtflottenbau und Parteipolitik (1894–1901) “, in der er einen „Querschnitt durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus“ legte. Die Studie erschien 1930 als Buch (Nachdruck 1965, englisch 1975), löste ebenso entschiedene Zustimmung wie erbitterte Ablehnung aus und gehört noch immer (1976) zu den besten Monographien über den Imperialismus des kaiserlichen Deutschland. In den 6 Jahren vor 1933 schrieb K. mehr als ein Dutzend brillanter Aufsätze, die wichtige Probleme der preußisch-deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert aufgriffen, das Manuskript zu einem Buch über „Wirtschaft und Politik in der preußischen Reformzeit“, sowie Entwürfe zu weiteren Projekten und Vorlesungen, die er seit 1929 an der „Hochschule für Politik“ hielt. Seit 1931 arbeitete er an einer mehrbändigen Aktenedition über die „Preußische Finanzpolitik 1806-15“. Als Rockefeller-Stipendiat reiste er Anfang 1933 in die USA, um eine vergleichende Studie zur internationalen Anleihenpolitik vor 1820 vorzubereiten. Als 30jähriger starb er dort plötzlich an seinem angeborenen Herzleiden.
K. stand politisch „links“, ohne einer Partei anzugehören, in England hätte er als typischer „Radical“ gegolten. Die nationalsozialistische Gefahr hat er frühzeitig erkannt, ohne in seiner Umwelt Verständnis zu finden. Sein Versuch, die deutsche Geschichte im Zeitalter seit der „Doppelrevolution“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts neu zu analysieren, führte ihn zu einer sozialökonomischen Erklärung von Politik unter der Leitperspektive eines „Primats der Innenpolitik“. Seinem Ziel, möglichst genau Einfluß und Funktion gesellschaftlicher und ökonomischer Interessen zu bestimmen, kam er nach der unorthodoxen Rezeption von Max Weber und Karl Marx zum Teil erstaunlich nahe, zum Teil versperrten ihm aber auch Polemik, von der Herzkrankheit beschleunigtes Arbeitstempo und bewußte Einseitigkeit ein differenzierteres Urteil in realitätsadäquaten Begriffen. Mit seinem „stürmisch-rationalen Drang“|(Vagts) nach wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Pädagogik verfolgte er geradezu leidenschaftlich sein Fundamentalproblem des Zusammenhangs von Wirtschaft, Gesellschaft und Herrschaft. Nahezu 20 Jahre in Deutschland totgeschwiegen oder vergessen, gewann er sowohl wegen seiner scharfen Absetzung von der Hauptströmung der deutschen Historiographie als auch wegen seiner erkenntnisleitenden Interessen und Konzeptionen für eine kritische politische Sozialgeschichte des modernen Deutschland seit circa 1965 in der Bundesrepublik einen eigentümlich verspäteten Einfluß. Wissenschaftsgeschichtlich hing die Wirkung dieser Wiederentdeckung mit dem Vordringen der westdeutschen Sozialgeschichte, politisch mit der Reformstimmung am Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre zusammen. Unbestreitbar bleiben K.s Anregungen für zahlreiche Historiker und Sozialwissenschaftler, die ebenso von den Vorzügen seiner bohrenden Interpretation wie von der stimulierenden Parteilichkeit seiner pointierten Urteile angezogen wurden. K. kann als einer der wenigen, auch Jahrzehnte nach seinem Tode noch dezidierte Unterstützung oder Zurückweisung, jedenfalls nachhaltige Impulse auslösenden Nonkonformisten der modernen deutschen Geschichtswissenschaft angesehen werden.
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Werke
Weitere W Der Primat d. Innenpol., Ges. Aufsätze z. preuB.-dt. Soz.gesch. im 19. u. 20. Jh., hrsg. v. H.-U. Wehler, 1965. ³1976 (erstmals mit allen Originalfassungen, engl. 1976).
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Literatur
C. A. Beard, The Navy, 1932, S. 14-38;
ders., The Economic Basis of Politics, 1957, S. 121-28;
P. Gay, Weimar Culture, The Outsider as Insider, 1968, dt. u. d. T., Die Republik d. Außenseiter, 1970;
J. J. Sheehan, The Primacy of Domeslics, Central European Hist. I, 1968, S. 166-74;
II. J. Blanke, „Pol.“ Wiss. od. Verdrängung? Erinnerung an E. K., in: Pol. Vj.schr. 11, 1970, S. 623-31;
H.-U. Wehler, Krisenherde d. Kaiserreichs 1871-1918, 1970, S. 259-79;
ders., Dt. Historiker I, 1971, S. 100-13;
G. G. Iggers, Dt. Gesch.wiss., ²1972;
Gesch.wiss. in Dtld., hrsg. v. B. Faulenbach, 1974;
A. Skop, The Primacy of Domestic Politics, in: Hist. and Theory 13, 1974, S. 119-31;
J. Kocka, Theorien in d. Soz.- u. Wirtsch.gesch., in: Gesch. u. Ges. 1, 1975, S. 9-42;
H. Schleier, Die bürgerl. dt. Gesch.schreibung d. Weimarer Republik, 1975. -
Autor/in
Hans-Ulrich Wehler -
Zitierweise
Wehler, Hans-Ulrich, "Kehr, Eckart" in: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), S. 395-396 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd11609284X.html#ndbcontent