Lingens, Ella
Lingens, Ella (geborene Ella Reiner)
1909 – 2002
Widerstandskämpferin, Juristin, Ärztin
- Lebensdaten
- 1909 – 2002
- Geburtsort
- Wien
- Sterbeort
- Wien
- Beruf/Funktion
- Widerstandskämpferin ; Juristin ; Ärztin ; Psychoanalytikerin ; Widerstandskämpferin
- Konfession
- evangelisch (Augsburger Bekenntnis)
- Normdaten
- GND: 11703228X | OGND | VIAF: 22908364
- Namensvarianten
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- Reiner, Ella
- Lingens, Ella
- Reiner, Ella
- Lingens-Reiner, Ella
- Reiner, Ella Lingens-
- mehr
Literatur(nachweise)
- Katalog des Bibliotheksverbundes Bayern (BVB)
- Deutsche Digitale Bibliothek
- Normdateneintrag des Südwestdeutschen Bibliotheksverbundes (SWB)
- Österreichischer Bibliothekenverbund (OBV)
- Gemeinsamer Verbundkatalog (GBV)
- * Bibliothek des Instituts für Zeitgeschichte München - Berlin
- * Jahresberichte für deutsche Geschichte - Online
- Personen im Wien Geschichte Wiki [2012-]
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Ella Lingens unterstützte nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich seit 1938 bedrohte Wiener Jüdinnen und Juden v. a. durch Verstecken und Fluchthilfe. Von 1943 bis 1945 in den Konzentrationslagern Auschwitz und Dachau interniert, wirkte Lingens nach dem Zweiten Weltkrieg v. a. als Tuberkuloseärztin. 1980 wurde sie durch die israelische Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
Lebensdaten
Geboren am 18. November 1908 in Wien Gestorben am 30. Dezember 2002 in Wien Grabstätte Zentralfriedhof (Ehrengrab, Gr. 40, Nr. 90) (weiterführende Informationen) in Wien Konfession evangelisch (Augsburger Bekenntnis) -
Lebenslauf
18. November 1908 - Wien -
Genealogie
Vater Friedrich Reiner römisch-katholisch; Bahnbeamter; später Besitzer des Landguts Ernestinovo (Slawonien, Kroatien) Mutter Elsa Reiner, geb. Thommen evangelisch (Augsburger Bekenntnis) Großvater mütterlicherseits Achilles Thommen 25.5.1832–21.8.1893 aus Basel; Bahnbauingenieur; 1867–1869 Direktor der Österreichisch-Ungarischen Staatseisenbahngesellschaft; 1869 königlicher Rat; seit 1883 k.k. Oberbaurat in Wien Großmutter mütterlicherseits Emma Thommen, geb. Bratanisch Bruder Friedl Reiner Schwester Edith Reiner Schwester Hertha Reiner Bruder Helmut Reiner Heirat 7.3.1938 Ehemann Kurt Maria Lingens 31.5.1912–1966 (oder 1967) aus Düsseldorf; Arzt; Widerstandskämpfer; am 23.10.1942 verhaftet, anschließend einer Strafkompanie in der Sowjetunion zugeteilt, hier schwer verwundet; nach dem Zweiten Weltkrieg als Psychiater in den USA tätig Schwiegervater Walther Lingens 14.3.1882–28.1.1940 aus Aachen; Verwaltungsbeamter; 1932–1935 Polizeipräsident in Köln Schwiegermutter Eugenie (Nini) Lingens, geb. Piedboeuf 22.8.1886–20.6.1917 Tochter des Louis Piedboeuf (1838–1891), belgischer Ingenieur und Unternehmer, Dampfkesselfabrikant in Düsseldorf Scheidung 1947 Sohn Peter Michael Lingens geb. 3.8.1939 Journalist, Publizist, Herausgeber Diese Grafik wurde automatisch erzeugt und bietet nur einen Ausschnitt der Angaben zur Genealogie.Lingens, Ella (1909 – 2002)
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Vater
Friedrich Reiner
römisch-katholisch; Bahnbeamter; später Besitzer des Landguts Ernestinovo (Slawonien, Kroatien)
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Mutter
Elsa Reiner
evangelisch (Augsburger Bekenntnis)
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Großvater mütterlicherseits
25.5.1832–21.8.1893
aus Basel; Bahnbauingenieur; 1867–1869 Direktor der Österreichisch-Ungarischen Staatseisenbahngesellschaft; 1869 königlicher Rat; seit 1883 k.k. Oberbaurat in Wien
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Großmutter mütterlicherseits
Emma Thommen
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Bruder
Friedl Reiner
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Schwester
Edith Reiner
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Schwester
Hertha Reiner
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Bruder
Helmut Reiner
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Heirat
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Ehemann
Kurt Lingens
31.5.1912–1966 (oder 1967)
aus Düsseldorf; Arzt; Widerstandskämpfer; am 23.10.1942 verhaftet, anschließend einer Strafkompanie in der Sowjetunion zugeteilt, hier schwer verwundet; nach dem Zweiten Weltkrieg als Psychiater in den USA tätig
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Biografie
Lingens legte 1926 unter ihrem Geburtsnamen Reiner an dem privaten Mädchen-Lyzeum Luithlen in Wien die Matura ab, trat im selben Jahr der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs bei und hielt sich anschließend in London auf. Seit 1927 studierte sie Rechtswissenschaften an den Universitäten Wien und Zürich und wurde nach judiziellen, staatswissenschaftlichen und rechtshistorischen Prüfungen im Mai 1932 zur Dr. iur. promoviert. In den Februarkämpfen 1934 stellte Lingens ihre Wohnung der „Arbeiter-Zeitung“ zur Verfügung und organisierte laut eigenen Angaben die Verteilung von Schriften der Revolutionären Sozialisten. Ihre Hinwendung zum Marxismus wurde u. a. von dem Mathematiklehrer und späteren Soziologen Paul Felix Lazarsfeld (1901–1976) befördert, mit dem sie kurzzeitig verlobt war.
Nachdem sich ihr Wunsch, Richterin zu werden, zerschlagen hatte, begann Lingens 1935 ein Medizinstudium an der Universität Wien mit dem Ziel, Psychoanalytikerin zu werden. Studienaufenthalte führten sie nach München (1936) und Marburg an der Lahn (1938). Lingens entschied sich nach dem „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ mit ihrem Ehemann Kurt Lingens (1912–ca. 1966) zum Verbleib in Wien und bot während der Novemberpogrome 1938 jüdischen Familien Unterschlupf. Als im Sommer 1942 Deportationen von Juden aus Wien begannen, formte sich um das Ehepaar Lingens und den befreundeten Psychoanalytiker Karl Motesiczky (1904–1943) eine Widerstandsgruppe. Ausgehend von Motesiczkys Familienanwesen in der Hinterbrühl (Niederösterreich) führte die Gruppe Hilfs- und Solidaritätsaktionen für Jüdinnen und Juden durch, nahm untergetauchte Personen bei sich auf, versorgte Verfolgte mit Lebensmitteln und unterstützte sie bei der Flucht in das Ausland. Zu den Personen, die in dem Anwesen Unterschlupf fanden, zählten u. a. die Physiker Karl Przibram (1878–1973), Anna Urbach (1905–1993) und Franz Urbach (1902–1969) sowie die Pianistin Erna Gál (1899–1995).
Bei einer 1942 organisierten Fluchthilfe für polnische Juden in die Schweiz arbeitete das Ehepaar Lingens mit Rudolf Klinger (1889–1943), einem Angehörigen der „Judenpolizei“, zusammen, der sich als Gestapo-Spitzel erwies und kurz darauf nach Auschwitz deportiert wurde. Am 13. Oktober 1942 verhaftet, wurde Lingens am 15. Februar 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie als Ärztin im Krankenrevier tätig und dem SS-Arzt Josef Mengele (1911–1979) unterstellt wurde. Im April 1943 erkrankte sie an Flecktyphus, wurde aber von ihrem ehemaligen Studienkollegen, dem SS-Arzt Werner Rohde (1904–1946), gerettet.
Anfang Dezember 1944 wurde Lingens in das Konzentrationslager Dachau überstellt, wo sie in einem Frauen-Außenkommando in München sowie im Dachauer Frauenkrankenrevier als Ärztin wirkte. Nach der Befreiung des Lagers durch US-amerikanische Truppen arbeitete sie als Tuberkuloseärztin in der Lungenheilstätte Laas (Kärnten) und seit 1948 in Alland (Niederösterreich). Anfang Dezember 1945 beendete Lingens ihr Medizinstudium an der Universität Wien und absolvierte eine fachärztliche Ausbildung in Pulmologie. Von 1954 bis zu ihrer Pensionierung 1973 als ärztliche Fachreferentin und Leiterin des Tuberkulosereferats im Bundesministerium für soziale Verwaltung tätig, wirkte sie am Wiederaufbau des österreichischen Gesundheits- und Sozialwesens mit. Auf Lingens’ Initiative wurden seit 1954 die Tuberkuloseerkrankungen in ganz Österreich statistisch erfasst; die jährlich publizierten Berichte dienten als Grundlage der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
Zeitlebens an Psychoanalyse interessiert, gehörte Lingens dem Vorstand der 1968 in Wien gegründeten Sigmund Freud Gesellschaft an und war bis 1986 deren Vizepräsidentin und Generalsekretärin. Von 1975 bis 1988 war sie u. a. neben Harald Leupold-Löwenthal (1926–2007) und Hans Lobner (1944–2011) verantwortliche Redakteurin des „Sigmund Freud House Bulletin“, in dem sie Artikel und Rezensionen veröffentlichte, die zur Aufarbeitung der Geschichte der Psychoanalyse unter der NS-Herrschaft beitrugen. 1964/65 sagte Lingens in dem in Frankfurt am Main verhandelten ersten Auschwitz-Prozess in 22 Fällen als Zeugin aus und trug als eine von 220 Überlebenden dazu bei, den in Auschwitz verübten Massenmord historisch zu dokumentieren.
Lingens förderte bis zu ihrem Tod zudem als v. a. in Schulen und Lehrerseminaren präsente Zeitzeugin die Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ihre 1947 verfassten Erinnerungen wurden von Ilse Barea-Kulcsar (1902–1973) in das Englische übertragen und 1948 u. d. T „Prisoners of Fear“ veröffentlicht. Das Buch avancierte zu einem Klassiker der frühen analytischen Literatur zum KZ-System, gilt als bedeutendes Dokument der Erinnerungsliteratur und wurde 2003 erstmals vollständig in deutscher Sprache von Lingens’ Sohn herausgegeben, der das Buch aktualisierte und um Details aus Gesprächen mit seiner Mutter ergänzte.
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Auszeichnungen
1924 Mitglied im Verein Sozialistischer Mittelschüler 1928 Mitglied im Verband Sozialistischer Studenten seit 1960 Präsidentin der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz (später Ehrenpräsidentin) 1968 Mitglied im Vorstand der Sigmund Freud Gesellschaft, Wien (bis 1986 Vizepräsidentin und Generalsekretärin) 1980 Auszeichnung als „Gerechte unter den Völkern“ durch die israelische Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem (mit Kurt Lingens) 2006 Ella Lingens-Gymnasium, Gerasdorfer Straße 103, Wien 2012 Ella-Lingens-Straße, Wien 2016 Ella-Lingens-Platz, München -
Quellen
Nachlass:
nicht bekannt.
Gedruckte Quellen:
Ella Lingens, Fleckfieber, in: Karin Berger/Elisabeth Holzinger/Lotte Podgornik/Lisbeth N. Trallori (Hg.), „Ich geb Dir einen Mantel, daß du ihn noch in Freiheit tragen kannst“. Widerstehen im KZ. Österreichische Frauen erzählen, 1987, S. 157 ff.
Ella Lingens, in: Brigitte Bailer (Hg.), Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, 21993, S. 632–634.
Peter Michael Lingens, Ansichten eines Außenseiters, 2009.
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Werke
Monografien und Aufsätze:
Prisoners of Fear, 1948, dt. u. d. T. Gefangene der Angst. Ein Leben im Zeichen des Widerstandes, hg. u. mit einem Vorw. vers. v. Peter Michael Lingens, 2003, Taschenbuchausg. 2005.
Ella Lingens-Reiner/Leopoldine Schmiedek, Aus der Sektion 5 des Bundesministeriums für soziale Verwaltung. Die Tuberkulose-Situation in Österreich im Jahre 1960, 1962.
Eine Frau im Konzentrationslager, 1966.
Als Ärztin in Auschwitz und Dachau, in: Dachauer Hefte 4 (1988), H. 4, S. 22–58.
Biographisches Nachwort, in: Alexander Weißberg-Cybulski, Im Verhör. Ein Überlebender der stalinistischen Säuberungen berichtet, 1993, S. 347–358.
Ein anderer Mengele? Nachwort II, in: Lucette Matalon Lagnado/Sheila Cohn Dekel, Die Zwillinge des Dr. Mengele. Der Arzt von Auschwitz und seine Opfer, 1994, S. 263–272.
Herausgeberschaften:
H. G. Adler/Hermann Langbein/Ella Lingens-Reiner (Hg.), Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, 1962, 72020.
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Literatur
Erika Weinzierl, Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung 1938–1945, 41997, S. 129, 134 f. u. 163 f.
Elisabeth Welzig, „Ich konnte Familie und Beruf nur theoretisch vereinbaren“. Ella Lingens, in: dies. (Hg.), Leben und Überleben. Frauen erzählen vom 20. Jahrhundert, 2006, S. 175–187.
Ilse Korotin (Hg.), „Die Zivilisation ist nur eine ganz dünne Decke…“. Ella Lingens (1908–2002). Ärztin – Widerstandskämpferin – Zeugin der Anklage, 2011.
Peter Michael Lingens, Zeitzeuge eines Jahrhunderts. Eine Familiengeschichte zwischen Adolf Hitler, Bruno Kreisky, Donald Trump und Wladimir Putin, 2023, S. 15–95.
Brigitte Ungar-Klein, „Ich bin dagegen, das Land diesen Verbrechern zu überlassen.“ Ella Lingens. Ärztin und Widerstandskämpferin, in: Wir hätten es nicht ausgehalten, dass die Leute neben uns umgebracht werden. Hilfe für verfolgte Juden in Österreich 1938–1945, hg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 2023, S. 281–315.
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Onlineressourcen
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Porträts
Fotografien, Yad Vashem, Righteous Among the Nations Collection, Jerusalem.
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Autor/in
→Ilse Korotin (Wien)
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Zitierweise
Korotin, Ilse, „Lingens, Ella“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2024, URL: https://www.deutsche-biographie.de/11703228X.html#dbocontent