Kuhn, Roland
- Lebensdaten
- 1912 – 2005
- Geburtsort
- Biel (Kanton Bern)
- Sterbeort
- Scherzingen (Kanton Thurgau)
- Beruf/Funktion
- Psychiater ; Daseinsanalytiker ; Hochschullehrer
- Konfession
- unbekannt
- Normdaten
- GND: 124299091 | OGND | VIAF: 65855864
- Namensvarianten
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- Kuhn, Ernst Roland
- Kuhn, Roland
- Kuhn, Ernst Roland
- Cuhn, Roland
- Cuhn, Ernst Roland
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Kuhn, Ernst Roland
1912 – 2005
Psychiater
Roland Kuhn wirkte seit 1939 als Oberarzt, seit 1971 als Direktor an der Thurgauischen Irrenanstalt (seit 1966 Psychiatrische Klinik). In Zusammenarbeit mit dem Pharmaunternehmen Geigy Farbenfabrik AG (heute Norvatis AG) entdeckte er bei der Prüfung mehrerer Substanzen auf ihre antipsychotische Wirkung das erste Antidepressivum, das seit 1958 unter dem Namen Tofranil Anwendung findet. Kuhns Vorgehen bei den Medikamententests wird heute aufgrund der mangelnden Einhaltung ethischer Standards kritisiert.
Lebensdaten
Geboren am 4. März 1912 in Biel (Kanton Bern) Gestorben am 10. Oktober 2005 in Scherzingen (Kanton Thurgau) Grabstätte Privatgrundstück in Magglingen (Kanton Bern) -
Autor/in
→Paulina S. Gennermann (Heidelberg)
-
Zitierweise
Gennermann, Paulina·S., „Kuhn, Roland“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.01.2025, URL: https://www.deutsche-biographie.de/124299091.html#dbocontent
Kuhn wuchs in Biel (Kanton Bern) auf, wo er die Schule besuchte. Er studierte Medizin an der Universität in Bern. Nach seinem Staatsexamen 1937 ging er an die psychiatrische Klinik Waldau zu Jakob Klaesi (1883–1980), der ihm ein Mentor wurde. Kuhn unterhielt eine freundschaftliche Beziehung zu Ludwig Binswanger (1881–1966), den er 1939 während einer Gutachtertätigkeit im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen kennenlernte. Er wurde 1937 mit der Dissertation „Über die Jodausscheidung der Kretinen“ zum Dr. med. promoviert und wechselte 1939 als Oberarzt an die Thurgauische Irrenheilanstalt (seit 1966 Psychiatrische Klinik) Münsterlingen (Kanton Thurgau). Trotz verschiedener Angebote von anderen Kliniken blieb er bis zu seiner Pensionierung 1980 in Münsterlingen und wurde 1971 Klinikdirektor als Nachfolger Adolf Zollikers (1904–1974). Neben seiner psychiatrischen Arbeit und Forschung zu Psychopharmaka wandte sich Kuhn der Daseinsanalyse sowie der Arbeit an und mit Rorschachtests zu. In diesem Themengebiet habilitierte er sich 1957. Er erhielt 1966 eine Titularprofessur der Universität Zürich.
Als Kuhns bedeutendste wissenschaftliche Leistung gilt die Entdeckung des ersten Antidepressivums. In Zusammenarbeit mit dem Pharmaunternehmen Geigy Farbenfabrik AG (heute Norvatis AG) testete er seit den 1950er Jahren mindestens 67 Substanzen auf potenziell antipsychotische Wirkungen, wofür er privat finanzielle Zuwendungen erhielt. Insbesondere mit Paul Schmidlin, der seit 1945 bei Geigy tätig war, pflegte Kuhn einen regen Austausch. Zwar zeigten die getesteten Präparate keinen signifikanten Effekt bei Schizophrenie oder Psychosen, allerdings beobachtete Kuhn bei der Substanz G22 355 einen Effekt bei Depressionen. 1957 publizierte er in der „Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift“ den Artikel „Über die Behandlung depressiver Zustände mit einem Iminodibenzylderivat (G 22 355)“. Der Stoff ermöglichte 1958 erstmalig eine medikamentöse Depressionstherapie und erhielt den Markennamen Tofranil.
Diese Entdeckung führte zu einem schnellen weltweiten Einsatz des Mittels und zu zahlreichen Publikationen zu dem Wirkstoff Imipramin. 1960 fand in Brasilien eine Konferenz statt, auf der dessen Wirkung im Vergleich zu oder in Zusammenwirken mit Elektrokrampfbehandlungen diskutiert wurde. Das internationale Interesse an einer medikamentösen Alternative zu Krampfbehandlungen war hoch. 1972 erfolgte die Markteinführung eines weiteren, durch Kuhns Arbeit unterstützten Antidepressivums (Ludiomil). Nach seiner Pensionierung 1980 unterhielt Kuhn mit seiner Frau eine Privatpraxis in Scherzingen (Kanton Thurgau).
Der üblichen Praxis entsprechend, wurden weder die über 2700 Patientinnen und Patienten noch die Angehörigen nicht oder nur unvollständig über den experimentellen Charakter ihrer Behandlung aufgeklärt; dies geschah auch nach der vom Weltärztebund 1964 verabschiedeten Deklaration von Helsinki nicht, die ethische Grundsätze für medizinische Forschung (u. a. eine Einwilligungserklärung) aufstellte. Kuhn verstand sich als qualitativ beobachtender, detailliert dokumentierender und durch Erfahrung den individuellen Fall einschätzender Arzt. Dieses Selbstverständnis widersprach seit den 1960er Jahren den internationalen Entwicklungen in der Psychiatrie, in die quantitative Doppelblindstudien und umfängliche Aufklärung der Patienten und Patientinnen Einzug hielten. Kuhns Fehlverhalten wurde seit 2012 öffentlich diskutiert sowie seit 2015 wissenschaftlich und politisch aufgearbeitet.
1971 | Taylor Manor Hospital Award, Baltimore (Maryland, USA) |
1974 | Ehrenmitglied des American College of Neuropsychopharmacology |
1993 | Ehrenbürger von Scherzingen (Kanton Thurgau) |
2004 | Hans-Prinzhorn-Medaille |
Dr. med. h. c., Universität Leuven | |
Dr. med. h. c., Universität Basel | |
Dr. phil. h. c., Universität Sorbonne |
Nachlass:
Staatsarchiv Thurgau, Frauenfeld (Kanton Thurgau). (weiterführende Informationen)
Weitere Archivmaterialien:
Staatsarchiv Thurgau, Frauenfeld (Kanton Thurgau). (Quellenbestand der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen)
Über die Jodausscheidung der Kretinen, 1938. (Diss. med.)
Daseinsanalyse eines Falles von Schizophrenie, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie (112) 1946, S. 233–257.
Über Maskendeutungen im Rorschachschen Versuch, 1944, 21954.
Über Maskendeutungen im Rorschachʼschen Formdeutungsversuch, 1958. (Habilitationsschrift)
Daseinsanalytische Studien über die Bedeutung von Grenzen im Wahn, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 124 (1952), S. 354–383.
Über die Behandlung depressiver Zustände mit einem Iminodibenzylderivat (G22 355), in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 87 (1957), H. 35/36, S. 1135–1140.
Daseinsanalyse und Psychiatrie, 1963.
The Imipramine Story, in: Frank J. Ayd/Barry Blackwell (Hg.), Discoveries in Biological Psychiatry, 1970, S. 205–217.
Art. „Daseinsanalyse“, in: Christian Müller (Hg.), Lexikon der Psychiatrie, 1973, S. 78–91.
Roland Kuhn, Art. „Roland Kuhn“, in: Ludwig J. Pongratz (Hg.), Psychiatrie in Selbstdarstellungen, 1977, S. 219–257.
Charles Cahn, Roland Kuhn, 1912–2005, in: Neuropsychopharmacology 31 (2006), S. 1096. (P) (Onlineressource)
Christian Müller, Art. „Roland Kuhn“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 2007. (Onlineressource)
Marietta Meier/Mario König/Magaly Tornay, Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980, 2019.
Hanfried Helmchen, Alltägliche Grenzüberschreitungen. Zur Skandalisierung der klinischen Arzneimittelprüfungen des Psychiaters Roland Kuhn, in: Der Nervenarzt 94 (2023), Nr. 3, S. 243–249. (Onlineressource)
Fotografien, Staatsarchiv Thurgau, Frauenfeld.