Iggers, Georg G.
- Lebensdaten
- 1926 – 2017
- Geburtsort
- Hamburg-Eppendorf
- Sterbeort
- Williamsville (New York, USA)
- Beruf/Funktion
- Historiker ; Bürgerrechtsaktivist ; Hochschullehrer
- Konfession
- jüdisch
- Normdaten
- GND: 119072254 | OGND | VIAF: 29548704
- Namensvarianten
-
- Iggers, Georg Gerson
- Georg Gerson Igersheimer
- Iggers, Georg G.
- Iggers, Georg Gerson
- Georg Gerson Igersheimer
- Igersheimer, Georg G.
- Igersheimer, Georg Gerson
- Iggers, Georg
- Iggers, George
- Iggersovi
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Iggers, Georg Gerson (bis 1938 Georg Gerson Igersheimer)
1926 – 2017
Historiker, Bürgerrechtsaktivist
Georg Iggers floh 1938 vor den Nationalsozialisten aus Deutschland und erhielt in den USA seine akademische Ausbildung. Seine Karriere als Hochschullehrer kulminierte in seiner langjährigen Tätigkeit an der State University of New York in Buffalo. Iggers wurde zum weltweit geachteten Experten für die Geschichte der Geschichtsschreibung. Er gewann gleichermaßen Anerkennung für seine Bemühungen, Brücken zwischen Historikern aus unterschiedlichen politischen Systemen zu bauen, sowie sein Eintreten für Bürgerrechte und gegen die Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA.
Lebensdaten
Geboren am 7. Dezember 1927 in Hamburg-Eppendorf Gestorben am 26. November 2017 in Williamsville (New York, USA) Grabstätte Elmlawn Cemetery in Tonawanda (New York, USA) Konfession jüdisch -
Autor/in
→Andreas W. Daum (Buffalo/Washington, DC)
-
Zitierweise
Daum, Andreas W., „Iggers, Georg G.“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.10.2022, URL: https://www.deutsche-biographie.de/119072254.html#dbocontent
Iggers wuchs in einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Hamburg auf und erlebte seit dem Grundschulalter den Antisemitismus der Nationalsozialisten. Als Jugendlicher wandte er sich dem Zionismus zu und bestand darauf, von der Knabenschule Knauerstraße in Hamburg an die dortige jüdisch-orthodoxe Talmud-Thora-Schule zu wechseln, bevor die Eltern ihn 1937 in ein israelitisches Internat nach Esslingen sandten. Im Oktober 1938 emigrierte die Familie in die USA, nahm den Namen Iggers an und ließ sich in Richmond (Virginia, USA) nieder, wo Iggers 1942 die High School abschloss. 1944 erwarb er den Bachelor of Arts mit dem Hauptfach Französische Literatur an der University of Richmond.
In zunehmender Distanz zum orthodoxen Judentum begann Iggers das Graduiertenstudium im German Department der University of Chicago, wo er auf andere Emigranten aus Europa traf, darunter Arnold Bergstraesser (1896–1964) und Stefan Brecht (1924–2009), der Sohn Bertolt Brechts (1898–1956). Er wandte sich der europäischen Ideengeschichte zu; die Faszination für den Linkshegelianismus und die Theorien von Karl Marx (1818–1883) begleitete ihn fortan. Während eines Studienjahrs an der New School of Social Research in New York City 1945/46 beeindruckte Iggers die protestantische Theologie und Philosophie Reinhold Niebuhrs (1892–1971) und Paul Tillichs (1886–1965). Nachdem er sich in seiner Magisterarbeit mit Heinrich Heine (1797–1856) und dessen Auseinandersetzung mit der Sozialphilosophie der französischen Saint-Simonisten beschäftigt hatte, stellte er diese in den Mittelpunkt seiner Dissertation, die er 1951 bei Bergstraesser in Chicago abschloss. Sie wurde unter den Titeln „The Cult of Authority. The Political Philosophy of the Saint-Simonians“ (1958, 21970) und „The Doctrine of Saint-Simon. An Exposition. First Year, 1828–1829“ (1958, 21972) in zwei Bänden publiziert.
Die 1948 geschlossene Ehe mit der Literaturhistorikerin Wilma Abeles schuf eine feste Basis für Iggers‘ Leben und intellektuelle Unternehmungen, wie die gemeinsame Biografie beider „Zwei Seiten der Geschichte“ (2002) belegt. Nach kurzer Tätigkeit an der University of Akron (Ohio, USA) lehrten Iggers und seine Ehefrau an zwei „Black Colleges“: von 1950 bis 1957 am Philander Smith College in Little Rock (Arkansas, USA) und von 1957 bis 1963 an der Dillard University in New Orleans (Louisiana, USA). Georg und Wilma Iggers wurden im Januar 1951 Mitglied der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und engagierten sich in der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Iggers verstand den Einsatz gegen Rassentrennung, wider die Diskriminierung von Minderheiten und für Bürgerrechte auch als Konsequenz aus eigenen Erfahrungen der Ausgrenzung in Deutschland und der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus.
Ein Studienaufenthalt in Europa von 1960 bis 1962 schuf die Grundlage für Iggers‘ Monografie „The German Conception of History“ (1968), in der er das historische Denken in Deutschland von Johann Gottfried Herder (1744–1803) bis Friedrich Meinecke (1862–1954) einer Ideologiekritik unterzog und den deutschen Historismus als Abkehr von westlichen liberalen Traditionen deutete. Das Werk etablierte Iggers, der seit 1965 an der State University of New York (SUNY) in Buffalo wirkte, als international führenden Historiker der Geschichtsschreibung. Trotz seiner kritischen Positionierung gegenüber postmodernen Theorien plädierte Iggers für einen Methodenpluralismus, der unterschiedliche historische Ansätze ‒ von der Annales-Schule und Historischen Sozialwissenschaft bis hin zur Alltagsgeschichte ‒ würdigte. Iggers wurde zum weltweit geachteten Experten der Geschichtswissenschaft als einer Disziplin im Wandel. Seine Bücher – darunter „New Directions in European Historiography“ (1975), „International Handbook of Historical Studies“ (1979), „Social History of Politics“ (1985) und „Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert“ (1993) – wurden Standardwerke, mehrfach und oft in Übersetzungen aufgelegt. 1980 gehörte Iggers zu den Mitgründern der Internationalen Kommission für Geschichte der Geschichtsschreibung, der er von 1995 bis 2000 als Präsident vorstand. Zudem war er Mitherausgeber der Fachzeitschriften „Storia della Storiografia“ (1982–2017) und „History and Theory“ (1999–2017).
Plurale Geschichtsschreibung bedeutete für Iggers auch, Kontakte über politische Grenzen und kulturelle Differenzen zu pflegen und den transnationalen Austausch von Historikern zu fördern. So unterhielt er seit 1961 enge Beziehungen zum Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen, initiierte 1975 mit Helmut Böhme (1936–2012) einen Studentenaustausch zwischen der SUNY Buffalo und der Technischen Universität Darmstadt, 1987 auch mit der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Ost. Iggers suchte früh den Austausch mit zahlreichen Kollegen aus sozialistischen Ländern, insbesondere der DDR. Nach seiner Emeritierung 1997 verdichtete er seine Kontakte nach Ostasien und Lateinamerika. Sie spiegelten Iggers‘ Interesse, eine interkulturell vergleichende Geschichte der Geschichtswissenschaft zu entwickeln, deren Anfänge er in „A Global History of Modern Historiography“ (2008, mit Q. Edward Wang) dokumentierte.
1951–1960 | Chair des Education Committee, National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) in Little Rock (Arkansas, USA), dann in New Orleans (Louisiana, USA) |
1962/63 | Chair des Education Committee, NAACP in Little Rock (Arkansas, USA), dann in New Orleans (Louisiana, USA) |
1962/63 | Co-Chair des Council for Peaceful Alternatives, New Orleans |
1960/61 | Guggenheim Fellow |
1961/62 | Rockefeller Fellow |
1964 | Fellow der Newberry Library, Chicago |
1965–1975 | Chair des Education Committee, NAACP, in Buffalo (New York, USA) |
1971/72 | Fellow des National Endowment for the Humanities (NEH) |
1978/79 | Fellow des NEH |
1985/86 | Fellow des NEH |
1986/87 | Fellow am Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Universität Bielefeld |
1987 | Fulbright Fellow |
1988 | Erasmus Kittler-Medaille der Technischen Universität Darmstadt |
1990 | Auswärtiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR |
1993/94 | Fellow am Woodrow Wilson Center, Washington, DC |
1995/96 | Humboldt Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung |
1995–2000 | Präsident der Kommission für Geschichte der Geschichtsschreibung des Comité international des sciences historiques |
2000 | Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien |
2001 | Dr. h. c., University of Richmond (Virginia, USA) |
2002 | Dr. h. c., Philander Smith College, Little Rock (Arkansas, USA) |
2006 | Dr. phil. h. c., Technische Universität Darmstadt |
2007 | Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland |
Nachlass:
University Archives, State University of New York (SUNY) at Buffalo, Georg G. Iggers Papers, Collections No. 22/6F/270.
Center for Jewish History, New York, Georg Iggers’ Office Files, Collection No. AR 25 780.
The Cult of Authority. The Political Philosophy of the Saint-Simonians, 1958, 21970.
The Doctrine of Saint-Simon. An Exposition. First Year, 1828–1829, 1958, 21972.
The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, 1968, revidierte Ausg. 1983; dt. Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, 1971, 21972, 31976, erw. Ausg. 1997; ungar. 1988, korean. 1992, chines. 2005.
Georg G. Iggers/Konrad von Moltke (Hg.), Leopold von Ranke. The Theory and Practice of History, 1973, revidierte u. aktualisierte Ausg. mit neuen Übersetzungen v. Wilma A. Iggers, 2011.
New Directions in European Historiography, 1975, revidierte Ausg. 1984; dt. Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft, 1978; dän., ital., korean., japan., chines., griech. Übers.
Georg G. Iggers/Harold T. Parker (Hg.), International Handbook of Historical Studies, 1979.
Georg G. Iggers (Hg.) The Social History of Politics. Critical Perspectives in West German Historical Writing since 1945, 1985.
Hans Erich Bödeker/Georg G. Iggers/Jonathan B. Knudsen (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, 1986, 21992.
Georg G. Iggers/James M. Powell (Hg.), Leopold von Ranke and the Shaping of the Historical Discipline, 1990.
Georg G. Iggers (Hg.), Ein anderer historischer Blick. Beispiele ostdeutscher Sozialgeschichte, 1991, erw. engl. Ausg. 1991.
Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, 1993, 21996, Neuausg. 2007; span., chines., japan. Übers.
Wolfgang Bialas/Georg G. Iggers (Hg.), Intellektuelle in der Weimarer Republik, 1996, 21997.
Historiography in the Twentieth Century. From Scientific Objectivity to the Postmodern Challenge, 1997; dt. Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, 1993; span., griech., türk., tschech., chines., isländ., japan. korean., poln., serb. Übers.
Georg G. Iggers (Hg.), Die DDR-Geschichtswissenschaft als Forschungsproblem, 1998.
Georg G. Iggers/Q. Edward Wang (Hg.), Turning Points in Historiography. A Cross Cultural Perspective, 2002.
Georg G. Iggers/Dieter Schott/Hanns H. Seidler/Michael Toyka-Seid (Hg.), Hochschule – Geschichte – Stadt. Festschrift für Helmut Böhme, 2004.
Georg G. Iggers/Q. Edward Wang, A Global History of Modern Historiography, 2008; dt. Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute, 2013; chines., russ., griech. Übers.
Autobiografische Texte:
An Autobiographical Approach to the German-Jewish Legacy, in: Abraham J. Peck (Hg.), The German-Jewish Legacy in America, 1938–1988. From Bildung to the Bill of Rights, 1989, S. 35–40.
Wilma A. Iggers/Georg G. Iggers, Autobiographie im Dialog. Wilma A. und Georg G. Iggers über jüdische Kindheit und Jugend in Deutschland und Böhmen und über ihre Emigration 1938, in: IMIS-Beiträge 2 (1996), S. 5–28.
Wilma A. Iggers/Georg G. Iggers, Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten. 2002 (P); engl. 2006; tschech., span., chines. Übers. (Onlineressource)
History and Social Action beyond National and Continental Borders, in: Andreas W. Daum/Hartmut Lehmann/James J. Sheehan (Hg.), The Second Generation. Émigrés from Nazi Germany as Historians. With a Biobibliographical Guide, 2016, S. 82–96.
Tonträger:
Georg and Wilma Iggers Oral Histories Collection, 1988, no. 22/6F/1261, University Archives, State University of New York (SUNY) at Buffalo.
Oral History Interview with George Iggers, Accession Number: 1990.338.84, RG Number: RG-50.037.0084, United States Holocaust Memorial Museum. (Onlineressource)
Georg Iggers, No. OH-46-d, Digital Collection, University at Buffalo Libraries. (Onlineressource)
Bibliografie:
Storia della Storiografia 73 (2018), S. 45–67.
Festschriften und Gedenkschrift:
Konrad Jarausch/Jörn Rüsen/Hans Schleier (Hg.), Geschichtswissenschaft vor 2000. Perspektiven der Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Georg G. Iggers zum 65. Geburtstag, 1991.
Gerald Diesener (Hg.), Historiographischer Rückspiegel. Georg G. Iggers zum 70. Geburtstag, 1997.
Larry E. Jones (Hg.), Crossing Boundaries. The Exclusion and Inclusion of Minorities in Germany and the United States, 2001.
Q. Edward Wang/Franz Fillafer (Hg.), The Many Faces of Clio. Cross-Cultural Approaches to Historiography. Essays in Honor of Georg G. Iggers, 2007.
Storia della Storiografia 73 (2018) H. 1.
Aufsätze und Nachrufe:
Andreas W. Daum, Georg G. Iggers (1926‒2017), in: Central European History 51 (2018), S. 335–353.
Andreas W. Daum, Refugees from Nazi Germany as Historians: Origins and Migrations, Interests and Identities, in: ders./Hartmut Lehmann/James J. Sheehan (Hg.), The Second Generation. Émigrés from Nazi Germany as Historians. With a Biobibliographical Guide, 2016, S. 1–52.
Jörn Rüsen, Georg G. Iggers (1926‒2017), in: Historische Zeitschrift 307 (2018), S. 733–740.
Franz L. Fillafer, Geschichte als Aufklärung. In Memoriam Georg G. Iggers (1926‒2017), in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 643–659.
Lexikonartikel:
Nina-Kathrin Behr, Art. „Iggers, Georg(e) G(erson)“, in: Lutz Hagestedt (Hg.), Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert, Bd. 21, 2014, Sp. 531–533. (W, L)
Fotografien, Abbildung in: Wilma A. Iggers/Georg G. Iggers, Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten, 2002. (Onlineressource)