Giersch, Herbert

Lebensdaten
1921 – 2010
Geburtsort
Reichenbach (Schlesien, heute Dzierżoniów, Polen)
Sterbeort
Saarbrücken
Beruf/Funktion
Wirtschaftswissenschaftler ; Hochschullehrer
Konfession
evangelisch-lutherisch
Normdaten
GND: 118843354 | OGND | VIAF: 266212646
Namensvarianten

  • Giersch, Herbert Hermann
  • Giersch, Herbert
  • Giersch, Herbert Hermann
  • Giiruswi, H.
  • Kiiruswi, H.
  • Ciiruswi, H.

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Zitierweise

Giersch, Herbert, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118843354.html [02.04.2025].

CC0

  • Giersch, Herbert Hermann

    1921 – 2010

    Wirtschaftswissenschaftler

    Herbert Giersch war als Mitglied des ersten Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung von 1964 bis 1970 und als Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft von 1969 bis 1989 einer der politisch einflussreichsten Volkswirte der Bundesrepublik. Seine Arbeitsschwerpunkte lagen auf dem Gebiet der internationalen Wirtschaft und der Wirtschafts- und Währungspolitik.

    Lebensdaten

    Geboren am 11. Mai 1921 in Reichenbach (Schlesien, heute Dzierżoniów, Polen)
    Gestorben am 22. Juli 2010 in Saarbrücken
    Grabstätte Hauptfriedhof in Saarbrücken
    Konfession evangelisch-lutherisch
    Herbert Giersch, Imago Images (InC)
    Herbert Giersch, Imago Images (InC)
  • 11. Mai 1921 - Reichenbach (Schlesien, heute Dzierżoniów, Polen)

    1927 - 1939 - Reichenbach (Schlesien, heute Dzierżoniów, Polen)

    Schulbesuch (Abschluss: Abitur); Reichsarbeitsdienst

    Volksschule; Reform-Realgymnasium

    Januar 1940 - 1942 - Breslau (Schlesien, heute Wrocław, Polen); Kiel

    Studium der Nationalökonomie (Abschluss: Diplom-Volkswirt)

    Universität

    Februar 1941 - 1945 - Kiel

    Kriegsdienst

    Kriegsmarine

    1945 - 1946 - Großbritannien

    Kriegsgefangenschaft

    1947 - 1950 - Münster

    wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Walter G. Hoffmann (1903–1971)

    Universität

    1948 - Münster

    Promotion (Dr. rer. pol.)

    Universität

    1948 - Salzburg

    Teilnehmer

    Salzburg Seminar in American Studies des Harvard Student Council

    1948 - 1949 - London

    Dozent

    London School of Economics

    1950 - Münster

    Habilitation für Wirtschaftliche Staatswissenschaften; Privatdozent

    Universität

    1950 - 1951 - Paris

    wissenschaftlicher Mitarbeiter

    Organisation of European Economic Co-operation (OEEC)

    1952 - 1953 - Münster

    Dozent; Stipendiat

    Rockefeller Foundation

    1953 - 1954 - Paris

    Leiter

    Abteilung Zollpolitik, unsichtbarer Handel und Dollarexportförderung der OEEC

    1955 - 1969 - Saarbrücken

    Professor für Nationalökonomie

    Universität des Saarlandes

    1960 - 2007 - Bonn; Berlin

    Mitglied

    Wissenschaftlicher Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie

    1962 - 1962 - New Haven (Connecticut, USA)

    Gastprofessor

    Yale University

    1964 - 1970 - Wiesbaden

    Gründungsmitglied

    Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

    1969 - 1989 - Kiel

    Präsident; Professor für Nationalökonomie

    Institut für Weltwirtschaft; Universität

    1977 - 1978 - New Haven (Connecticut, USA)

    Gastprofessor

    Yale University

    1998 - Frankfurt am Main

    Gründer

    Herbert Giersch Stiftung zur Förderung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, Lehre und Diskussion

    22. Juli 2010 - Saarbrücken

    Giersch wuchs in Reichenbach (Schlesien, heute Dzierżoniów, Polen) auf, wo er die Volksschule und das Reform-Realgymnasium besuchte und 1939 die Reifeprüfung ablegte. Nach Ableistung des Arbeitsdiensts begann er 1940 an der Universität Breslau (Schlesien, heute Wrocław, Polen) ein Studium der Nationalökonomie. Im Februar 1941 zum Kriegsdienst einberufen, setzte er während seiner Stationierung als Marinesoldat in Kiel sein Studium an der dortigen Universität fort, schloss es 1942 mit dem Diplom-Examen ab und knüpfte erste Kontakte zum Institut für Weltwirtschaft und zu Walter G. Hoffmann (1903–1971). Während der Kriegsgefangenschaft in Großbritannien 1945/46 bildete er sich in der ökonomischen Theorie fort und lehrte an der Lageruniversität.

    Seit Anfang 1947 war Giersch Assistent Hoffmanns an der Universität Münster, wo er 1948 mit einer Arbeit über die Frage des Lastenausgleichs zum Dr. rer. pol. promoviert wurde und sich 1950 mit der Studie „Wirtschaftswachstum und Beschäftigung“ für Wirtschaftliche Staatswissenschaften habilitierte. 1948 besuchte Giersch eines der von der Rockefeller Foundation finanzierten Salzburg Seminare unter der Leitung von Wassily Leontief (1906–1999), lehrte anschließend für ein Jahr an der London School of Economics und arbeitete mehrere Monate als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Generalsekretariat der Organisation for European Economic Co-operation (OEEC) in Paris. Seit Ende 1951 forschte er, gefördert von der Rockefeller Foundation, in Münster, 1953 wechselte er als Conseiller und Leiter der zollpolitischen Abteilung zur OEEC nach Paris, von wo er 1955 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an die Universität des Saarlandes folgte.

    In Saarbrücken publizierte Giersch 1961 sein Lehrbuch „Allgemeine Grundlagen der Wirtschaftspolitik“. 1963 berief ihn das Bundeswirtschaftsministerium als jüngstes von fünf Mitgliedern in den neu gegründeten Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Schon im ersten Gutachten des SVR geriet Giersch, der als „spiritus rector“ des Gremiums galt, in Konflikt mit der ordoliberalen, exportfreundlichen Linie der Regierung Ludwig Erhards (1897–1977), als er eine Aufwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar vorschlug, um den Inflationsdruck abzumildern.

    Die Währungspolitik und v. a. die Forderung nach flexiblen Wechselkursen, die Giersch mit seinem Saarbrücker Fakultätskollegen Egon Sohmen (1930–1977) vehement vertrat, entwickelte sich zu seinem wichtigsten wirtschaftspolitischen Thema in den 1960er Jahren. In den Bundestagswahlkämpfen 1966 und 1969 wurde er für diese Haltung, die nach Meinung vieler Politiker, v. a. von Franz-Joseph Strauß (1915–1988), die bundesdeutsche Exportindustrie geschwächt hätte, heftig attackiert. Wirtschaftsminister Karl Schiller (1911–1994) war spätestens 1968 von Gierschs Haltung überzeugt und konzipierte mit ihm zur Abschwächung der Inflationstendenzen in der Bundesrepublik die „konzertierte Aktion“ zur Mäßigung der Lohnforderungen der Gewerkschaften.

    Nach seinem Wechsel an das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) 1969 und dem Ende seiner Tätigkeit im SVR 1970 führte Giersch seine Kampagne für die Wechselkursfreiheit fort. Seine Einschätzungen wurden bestätigt durch den Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse im März 1973 und das Ausbleiben des Niedergangs der bundesdeutschen Exportwirtschaft.

    Als Präsident des IfW wandte sich Giersch wieder stärker der Theorie der Internationalen Wirtschaft zu. Unter Rückgriff auf die ältere Standorttheorie lieferte das IfW, das unter Giersch als international anerkannte Einrichtung auf dem Gebiet der weltwirtschaftlichen Forschung einen ausgezeichneten Ruf genoss, die maßgeblichen Analysen für den Strukturwandel der Weltwirtschaft seit den 1970er Jahren, speziell den auch von der bundesdeutschen Industrie vorangetriebenen Übergang zu global arbeitsteiligen Produktionsprozessen. Das Institut trat als ein Zentrum der Angebotspolitik in Westdeutschland auf und empfahl Lohnzurückhaltung als wichtigstes Instrument gegen die Strukturkrisen, was zu Anfeindungen aus Wirtschaft und Politik führte und als Übergang von einem keynesianischen zu einem neoliberalen Denken Gierschs interpretiert wurde. Giersch knüpfte hier jedoch unter den veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen unmittelbar an seine frühen Beiträge zur Weltwirtschaftslehre und zur Standorttheorie an.

    Die Europäische Integration und die deutsche Wiedervereinigung begleitete Giersch, seit 1989 im Ruhestand, skeptisch v. a. im Hinblick auf das Verhältnis von europäischer Bürokratie und wirtschaftlicher Freiheit. Der von ihm geprägte Begriff der „Eurosklerose“ ging aus diesen Reflexionen hervor. Den währungspolitischen Beschlüssen von Maastricht stand er kritisch gegenüber. 2001 äußerte er die Hoffnung, dass das Zeitalter der Nationalstaaten nun beendet und die Weltwirtschaft ein von politischer Intervention ungetrübter Raum zur freien Entfaltung von Produktivitäts- und Innovationsagglomerationen („Vulkane“) sein könne.

    Giersch wirkte v. a. als Vordenker, der frühzeitig das innovative Potential von Forschungsansätzen erkannte, insbesondere im Feld der Standorttheorie, die er noch vor der Formierung einer „New Economic Geography“ durch Paul Krugman (geb. 1953) in die analytische Gedankenwelt der Neoklassik überführte. Größere Bedeutung hatte Giersch als Politikberater und Ökonom, der wirtschaftspolitische Großwetterlagen und Strukturbrüche schnell identifizierte und die hieraus abzuleitenden Schlussfolgerungen allgemeinverständlich und öffentlichkeitswirksam verbreitete. Geprägt durch die anglo-amerikanische Wirtschaftswissenschaft, bereicherte er die stark nationalstaatlich denkende und handelnde Nationalökonomie der Nachkriegszeit von Beginn an um eine globale Perspektive.

    1977 Dr. h. c., Universität Erlangen
    1977 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1989 mit Stern, 1994 mit Stern und Schulterband)
    1983 Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik der Ludwig-Erhard-Stiftung e. V.
    1983 korrespondierendes Mitglied der British Academy
    1984 Dr. h. c., Universität Basel
    1987 ausländisches Mitglied der Schwedischen Akademie der Ingenieurswissenschaften
    1989 Paolo Baffi International Prize for Economics
    1991 Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste der Bundesrepublik Deutschland
    1993 Dr. h. c., Universität des Saarlandes, Saarbrücken
    1986 Präsident der Mont Pèlerin Society
    1998 Joachim-Jungius-Medaille der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg
    2000 August-Lösch-Ehrenring der Stadt Heidenheim an der Brenz
    2003 Prognos-Preis der Prognos AG
    2003 Wissenschaftspreis der Landeshauptstadt Kiel
    Ehrenmitglied der American Economic Association

    Nachlass:

    nicht vorhanden.

    Weitere Archivmaterialien:

    Universitätsarchiv Saarbrücken, Personalakte Herbert Giersch, PN 111.

    Universitätsarchiv Münster, Personalakten Herbert Giersch, 5/Nr. 531 u. 10/Nr. 2059.

    Monografien:

    Der Ausgleich der Kriegslasten vom Standpunkt sozialer Gerechtigkeit, 1948. (Diss. rer. pol.)

    Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, 1950. (Habilitationsschrift)

    Allgemeine Wirtschaftspolitik. Grundlagen, 1961, Neuausg. hg. v. Lars P. Feld/Karen Horn/Karl-Heinz Paqué, 2023. (P)

    Kontroverse Fragen der Wirtschaftspolitik, 1971.

    Allgemeine Wirtschaftspolitik. Konjunktur- und Wachstumspolitik in der offenen Wirtschaft, 1977, Neuausg. hg. v. Lars P. Feld/Karen Horn/Karl-Heinz Paqué, 2023. (P)

    Herbert Giersch/Karl-Heinz Paqué/Holger Schmieding, The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, 1992.

    Abschied von der Nationalökonomie. Wirtschaften im weltweiten Wettbewerb, 2001.

    Aufsätze:

    Economic Union Between Nations and the Location of Industries, in: The Review of Economic Studies 17 (1949), Nr. 2, S. 87–97.

    On the Desirable Degree of Flexibility of Exchange Eates, in: Review of World Economics 109 (1973), H. 2, S. 191–213.

    Im Brennpunkt: Wirtschaftspolitik. Kritische Beiträge, 1967–1977, hg. v. Karl Heinz Frank, 1978.

    The Age of Schumpeter, in: The American Economic Review 74 (1984), H. 2, S. 103–109.

    Perspectives on the World Economy, in: Weltwirtschaftliches Archiv 121 (1985), H. 3, S. 409–426.

    Gegen Europessimismus. Kritische Beiträge 1977 bis 1985, hg. v. Karl Heinz Frank, 1986.

    Eurosclerosis, What is the Cure?, in: European Affairs 4 (1987), S. 33–43.

    Herausgeberschaften:

    Probleme der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, 1974

    Money, Trade, and Competition. Essays in Memory of Egon Sohmen, 1992.

    Bibliografie:

    Bestandsverzeichnis seiner Veröffentlichungen, 1989.

    Lars P. Feld/Karen Ilse Horn/Karl-Heinz Paqué, Das Zeitalter von Herbert Giersch. Wirtschaftspolitik für eine offene Welt, 2011.

    Jan-Otmar Hesse, Wissenschaftliche Beratung der Wirtschaftspolitik. Das Bundeswirtschaftsministerium und die Volkswirtschaftslehre, in: Das Bundeswirtschaftsministerium in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft. Der deutsche Weg der Wirtschaftspolitik, hg. v. Werner Abelshauser, 2016, S. 391–481.

    Dieter Plehwe/Slobodian Quinn, Landscapes of Unrest. Herbert Giersch and the Origins of Neoliberal Economic Geography, in: Modern Intellectual History 16 (2019), Nr. 1, S. 185–215.

    Karl-Heinz Paqué, Vordenker der Globalisierung. Zum Gedenken an Herbert Giersch, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 22 (2021), Nr. 4, S. 278–86. (Onlineressource)

    Fotografie, 24.2.1964, in: Digitales Bildarchiv des Bundesarchivs. (Onlineressource)

  • Autor/in

    Jan-Otmar Hesse (Bayreuth)

  • Zitierweise

    Hesse, Jan-Otmar, „Giersch, Herbert“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.04.2025, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118843354.html#dbocontent

    CC-BY-NC-SA