Geiringer, Hilda

Lebensdaten
1893 – 1973
Geburtsort
Wien
Sterbeort
Santa Monica (Kalifornien, USA)
Beruf/Funktion
Mathematikerin
Konfession
jüdisch
Normdaten
GND: 116499923 | OGND | VIAF: 12382670
Namensvarianten

  • Pollaczek-Geiringer, Hilda (1921–1923)
  • Geiringer-von Mises, Hilda (seit 1943)
  • Geiringer, Hilda
  • Pollaczek-Geiringer, Hilda (1921–1923)
  • pollaczek-geiringer, hilda
  • Geiringer-von Mises, Hilda (seit 1943)
  • geiringer-von mises, hilda
  • Geiringer von Mises, Hilda
  • Geiringer, Hilda Pollaczek-
  • Gejringer, Ch.
  • Mises, Hilda Geiringer von
  • Mises, Hilda von
  • Pollaczek Geiringer, Hilda
  • Pollaczek, Hilda
  • Von Mises, Hilda

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Zitierweise

Geiringer, Hilda, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd116499923.html [30.01.2025].

CC0

  • Geiringer, Hilda (1921–1923 verheiratete Hilda Pollaczek-Geiringer, seit 1943 verheiratete Hilda Geiringer-von Mises)

    1893 – 1973

    Mathematikerin

    Hilda Geiringer beschäftigte sich vorwiegend mit Angewandter Mathematik und war eine der ersten Frauen Deutschlands, die sich in diesem Fach habilitierten. In Statistik und ihren wahrscheinlichkeitstheoretischen Grundlagen, in der Fachwerktheorie der Statik und in der Plastizitätstheorie schuf sie Bleibendes. In der letztgenannten Theorie sind die Geiringer-Gleichungen von 1930 weiterhin grundlegend.

    Lebensdaten

    Geboren am 28. September 1893 in Wien
    Gestorben am 22. März 1973 in Santa Monica (Kalifornien, USA)
    Grabstätte Mount Auburn Cemetery in Cambridge (Massachusetts, USA)
    Konfession jüdisch
    Hilda Geiringer, Wheaton College (InC)
    Hilda Geiringer, Wheaton College (InC)
  • 28. September 1893 - Wien

    - 1913 - Wien

    Schulbesuch (Abschluss: Matura)

    privates Mädchengymnasium; Gymnasium

    1914 - 1917 - Wien

    Studium der Mathematik

    Universität

    1917 - Wien

    Promotion (Dr. phil.)

    Universität

    1918 - 1919 - Berlin

    Redaktionsassistentin

    Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik (Referatezeitschrift)

    1920 - 1921 - Wien

    Lehrerin

    Volkshochschule

    1921 - 1933 - Berlin

    Institut für Angewandte Mathematik an der Universität

    1927 - Berlin

    Habilitation für Angewandte Mathematik

    Universität

    1929 - Berlin

    preußische Staatsbürgerin

    1933 - 1934 - Brüssel

    Emigration; Stipendiatin

    Institut für Mechanik der Université libre

    1934 - 1939 - Istanbul

    Assistentin

    Universität

    1939 - Bryn Mawr, Philadelphia (Pennsylvania, USA)

    erneute Emigration; Stipendium; Lecturer für Mathematik

    Bryn Mawr College

    1944 - 1959 - Norton (Massachusetts, USA)

    Professorin für Mathematik; Chairman of the Department of Mathematics

    Wheaton College

    1945 - Boston (Massachusetts, USA)

    US-amerikanische Staatsbürgerin

    1954 - 1958 - Cambridge (Massachusetts, USA)

    Research Fellow

    Harvard University

    1953 - 1963

    Air Force Research Fellow

    1954 - 1958

    Office Naval Research Fellow of Mathematics

    22. März 1973 - Santa Monica (Kalifornien, USA)

    alternativer text
    Hilda Geiringer (links), Wheaton College (InC)

    Nach dem Besuch eines privaten Mädchengymnasiums wechselte Geiringer 1905 auf ein Gymnasium und erwarb 1913 die Matura. Seit dem Ersten Weltkrieg war sie in der Wiener Jugendkulturbewegung um Siegfried Bernfeld (1892–1953) und in feministischen und pazifistischen Kreisen aktiv. 1914 begann Geiringer das Studium der Mathematik an der Universität Wien, das sie 1917 mit einer Promotion zur Dr. phil. bei Wilhelm Wirtinger (1865–1945) beendete. Ihre Dissertation gilt als eine der ersten Versuche der Verallgemeinerung der klassischen Fourieranalysis auf Funktionen mehrerer Variabler. Nach einer Anstellung in der Redaktion der mathematischen Referatezeitschrift „Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik“ bei Leon Lichtenstein (1878–1933) in Berlin 1918/19 unterrichtete Geiringer bis 1921 in Wien, u. a. in der Erwachsenenbildung (Volkshochschule). In ihrem Buch „Die Gedankenwelt der Mathematik“ (1922) reflektierte sie über ihre pädagogischen Erfahrungen von einem sozialistischen und vom Empirismus Ernst Machs (1838–1916) geprägten Standpunkt aus.

    1921 wurde Geiringer Assistentin am neuen Institut für Angewandte Mathematik an der Universität Berlin bei Richard von Mises (1883–1953), der ihre Forschung und Lehrtätigkeit, u. a. die Ausgestaltung und Leitung des Mathematischen Praktikums, hoch schätzte. Sie arbeitete zur Statistik, Wahrscheinlichkeitstheorie, Theoretischen Mechanik und Praktischen Analysis. 1927 habilitierte sie sich für Angewandte Mathematik mit der Schrift „Gliederung von ebenen Fachwerken“, in der ein grundlegender Satz über die Starrheit von Gliederungssystemen bewiesen wird, der sowohl theoretisches wie praktisches Interesse besitzt. In der Wahrscheinlichkeitstheorie legte sie 1928 einen neuen Satz über die Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse vor, den von Mises als bemerkenswertes Gegenstück zur bekannten Poissonschen Formel betrachtete. 1930 formulierte sie die sog. Geiringer-Gleichungen für plastische Deformation.

    1933 als außerordentliche Professorin für Mathematik an der Universität Berlin vorgeschlagen, flüchtete Geiringer nach der nationalsozialistischen Machtübernahme an das Institut für Mechanik der Université libre de Bruxelles. 1934 gelang es von Mises, sie als Assistentin an das Mathematische Institut der Universität Istanbul zu verpflichten, wohin er selbst hatte fliehen müssen. Hier hielt Geiringer Vorlesungen – teilweise in türkischer Sprache – und setzte ihre Forschungen u. a. in der ebenen, zweidimensionalen Plastizitätstheorie fort und erweiterte ihre Arbeiten in den Anwendungen der Statistik auf die mathematische Biologie, speziell Genetik. In Briefen an Kollegen und Organisationen zur Unterstützung jüdischer Flüchtlinge kritisierte sie wiederholt die geringeren Berufschancen für weibliche Wissenschaftler; in Dokumenten aus dieser Zeit korrigierte sie ihr Geburtsjahr von 1893 auf 1895, um als noch nicht Vierzigjährige bessere Berufsaussichten zu haben.

    Nach dem Tod Kemal Atatürks (1881–1938) wurden die Stellen für ausländische Wissenschaftler schrittweise abgebaut, sodass Geiringer die Türkei verlassen musste. Nach einer durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 erschwerten Flucht gelangte sie mit ihrer Tochter in die USA, wo sie am Bryn Mawr College, einer Frauenuniversität bei Philadelphia (Pennsylvania, USA), eine vorübergehende Stellung als Lecturer für Mathematik fand. In den folgenden Jahren war Geiringer wiederholt in Regierungsprojekte für Angewandte Mathematik eingebunden und hielt mehrfach Vorlesungen an der Brown University. 1944 wurde Geiringer Professorin und Chairman des Departments of Mathematics am kleinen Wheaton College in Norton (Massachusetts, USA), das näher bei Cambridge lag, wo ihr Ehemann von Mises an der Harvard University lehrte.

    Obwohl Geiringer bis an ihr Lebensende in ihrem Fach forschte und insgesamt etwa 100 Arbeiten veröffentlichte, widmete sie die ersten zehn Jahre nach von Mises‘ Tod hauptsächlich der Herausgabe seiner nachgelassenen Schriften und seiner „Selected Papers“ (1963/64). Dafür erhielt sie zwischen 1954 und 1958 ein Stipendium der Harvard University; bis 1959 lehrte sie weiterhin am Wheaton College. Seit 1956 wurde Geiringer als Emerita der Freien Universität Berlin-West geführt und erhielt eine Pension der Bundesrepublik. Geiringer gilt bis heute als eine Wegbereiterin der modernen Angewandten Mathematik und als Vorkämpferin der Einbeziehung von Frauen in die mathematische Forschung und Lehre.

    1959 Mitglied der American Academy of the Arts and Sciences, Boston (Massachusetts, USA)
    1960 Hon. D. Sc., Wheaton College, Norton (Massachusetts, USA)
    1967 Feier zum Goldenen Doktorjubiläum, Universität Wien
    2011 Hilda Geiringer Scholarship, Berlin Mathematical School (weiterführende Informationen)
    2016 Hilda-Geiringer-Gasse, Wien
    2017 Hilda-Geiringer-Weg, Berlin

    Nachlass:

    Harvard University Archives, Cambridge (Massachusetts, USA), Geiringer Papers als Teil der Richard von Mises Papers, HUG 4574.

    Weitere Archivmaterialien:

    Bodleian Library, Oxford, SPSL Refugee Files, Pollaczek-Geiringer 279-3, S. 24–142.

    Rede von Leopold Schmetterer anlässlich des Goldenen Doktorjubiläums, 1967.

    Trigonometrische Doppelreihen, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 29 (1918), S. 65–144.

    Die Gedankenwelt der Mathematik, 1922.

    Über die Gliederung ebener Fachwerke, in: Zeitschrift für angewandte Mathematik und Mechanik 7 (1927), S. 58–72.

    Über die Poissonsche Verteilung und die Entwicklung willkürlicher Verteilungen, in: Zeitschrift für angewandte Mathematik und Mechanik 8 (1928), S. 292–309.

    Richard von Mises/Hilda Pollaczek-Geiringer, Praktische Verfahren der Gleichungsauflösung, in: Zeitschrift für angewandte Mathematik und Mechanik 9 (1929), S. 58–77 u. 151–164.

    Beitrag zum vollständigen ebenen Plastizitätsproblem, in: Carl Wilhelm Oseen/Waloddi Weibull (Hg.), Verhandlungen des 3. Internationalen Kongresses für Technische Mechanik, Bd. 2, 1931, S. 185–190.

    The Probability Theory of Linkage in Mendelian Heredity, in: Annals of Mathematical Statistics 15 (1944), S. 25–37.

    Einige Probleme Mendelscher Genetik, in: Zeitschrift für angewandte Mathematik und Mechanik 33 (1953), S. 130–138.

    Richard von Mises, Mathematical Theory of Compressible Fluid Flow, erg. v. Hilda Geiringer/Geoffrey S. S. Ludford, 1958.

    Alfred M. Freudenthal/Hilda Geiringer, The Mathematical Theories of the Inelastic Continuum, in: Siegfried Flügge (Hg.), Encyclopedia of Physics, Bd. 3, T. 6, 1958, S. 229–433.

    Richard von Mises, Mathematical Theory of Probability and Statistics, hg. u. erg. v. Hilda Geiringer, 1964.

    Autobiografie des Bruders:

    Karl Geiringer, This I Remember, 1993.

    Aufsätze:

    Joan L. Richards, Hilda Geiringer von Mises, in: Louise S. Grinstein/Paul J. Campbell (Hg.), Women of Mathematics. A Biobibliographic Sourcebook, 1987, S. 41–46.

    Christa Binder, Hilda Geiringer. Ihre ersten Jahre in Amerika, in: Sergei S. Demidov/David Rowe/Menso Folkerts/Christoph J. Scriba (Hg.), Amphora. Festschrift für Hans Wussing zu seinem 65. Geburtstag, 1992, S. 25–53. (W)

    Reinhard Siegmund-Schultze, Hilda Geiringer-von Mises, Charlier Series, Ideology, and the Human Side of the Emancipation of Applied Mathematics at the University of Berlin during the 1920s, in: Historia Mathematica 20 (1993), S. 364–381.

    Reinhard Siegmund-Schultze, A Non-Conformist Longing for Unity in the Fractures of Modernity. Towards a Scientific Biography of Richard von Mises (1883–1953), in: Science in Context 17 (2004), S. 333–370.

    Reinhard Siegmund-Schultze, Hilda Geiringer (1893–1973). The Overall Successful Development of a Female Mathematician Under Male Dominance and in Spite of Conditions Adverse to Women’s Emancipation, in: Oberwolfach Reports 14 (2017), H. 1, S. 125–127.

    Lexikonartikel:

    J. C. Poggendorffs biographisch-literarisches Handwörterbuch der exakten Naturwissenschaften, Bd. 6, 1937, S. 865, Bd. 7a, 1958, S. 179 f. u. Bd. 8, 2002, S. 1349 f.

    Annette Vogt, Art. „Pollaczek, geb. Geiringer, Hilda“, in: Siegfried Gottwald/Hans-Joachim Ilgauds/Karl-Heinz Schlote (Hg.), Lexikon bedeutender Mathematiker, 1990, S. 376.

    John J. O’Connor/Edmund F. Robertson, Art. „Hilda Geiringer von Mises“, in: MacTutor History of Mathematics Archive, 2000. (P) (Onlineressource)

    Iris Grötschel, Art. „Hilda Geiringer“, in: Berliner Mathematische Gesellschaft, 2015. (P) (Onlineressource)

    Larry Riddle, Art. „Hilda Geiringer von Mises“, in: Biographies of Women Mathematicians, 2022. (P) (Onlineressource)

    Fotografie, Privatbesitz.

    Fotografien, ca. 1945–1960, Archiv des Wheaton College, Norton (Massachusetts, USA).

  • Autor/in

    Reinhard Siegmund-Schultze (Kristiansand, Norwegen)

  • Zitierweise

    Siegmund-Schultze, Reinhard, „Geiringer, Hilda“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.01.2023, URL: https://www.deutsche-biographie.de/116499923.html#dbocontent

    CC-BY-NC-SA